Scheiß auf Schiller, Fack ju Göhte - voll das Mjusicäl

Was assoziiert man spontan mit dem Genre "Musical"? Klar, einen edlen Theatersaal mit gepolsterten Sitzen, viele große Balladen und schillernde Kostüme, die die Zuschauer in glitzernde Welten eintauchen lassen.
Doch was, wenn all das plötzlich nicht mehr vorhanden ist ? Wenn man für einen Musicalbesuch plötzlich eine Halle mitten im "Werksviertel" betritt, die übersät mit Grafitis ist und im Saal, in welchem nach unseren Vorstellungen eigentlich eine Bühne in einen Vorhang gehüllt sein müsste, nur Bänke und Kästen zu erblicken sind...?  Und wenn dann auch noch auf dem Plakat am Eingang keineswegs der Name eines berühmten Klassikers von Webber steht, sondern die Gäste stattdessen von der leuchtenden Reklame "Fack ju Göhte - se Mjusicäl" empfangen werden, breitet sich große Skepsis bei den meisten Besuchern aus. Diverse Gedanken machen sich in den Köpfen breit: "Wo bin ich denn hier gelandet?"; "Unter einem Musicalbesuch stelle ich mir aber etwas Anderes vor. Hätten meine Kinder mich nicht vorwarnen können?"; "Wer kommt denn auf die kuriose Idee, diesen Filmhit auf eine Musicalbühne zu bringen und vor allem - ist so etwas überhaupt möglich?" Auch ich bin mit vielen dieser Fragen im Hinterkopf in das neue Musical "Fack ju Göhte" gegangen und wurde in drei mitreißenden Stunden belehrt, wie man seine Vorurteile am besten begräbt und wie viel Freude man haben kann, wenn sich manchmal auf etwas Neues und Unbekanntes einlässt.


Es gibt wohl kaum jemanden, der den großen Filmhit "Fack ju Göhte" nicht im Kino genossen hat. Egal, ob total begeistert oder komplett enttäuscht, so ziemlich jeder von uns hat den Film wohl verfolgt (nur an mir ist er bisher tatsächlich immer vorübergegangen ;-)) Dementsprechend hoch waren wohl auch die Erwartungen der Zuschauer, die sich auf das neue Konzept von Stage eingelassen und die Show im Werksviertel besucht haben. Zu den Zeiten, als die Menschen die Kinosäle gestürmt haben, um den großen Filmhit zu erleben, hat wohl noch niemand geahnt, dass "Herr Müller", "Frau Schnabelstedt", "Chantal" und all die Anderen, die die 10 b vor der Kamera mit ihren kleinen und großen Macken bereichert haben, tatsächlich auf einer Musicalbühne zum Leben erweckt werden. Doch nun, Jahre später, haben Stage Entertainment und allen voran der künstlerische Leiter Christoph Drewitz den Mut bewiesen, sich an diese kaum lösbare Aufgabe zu wagen und haben somit die Musicallandschaft mit einem absoluten Meisterwerk bereichert. Wer einmal im Münchner Klassenraum Platz genommen hat, den lässt die Energie der Schüler aus Klasse 10 b so schnell nicht wieder los. Ohrwurmlastige Musik gepaart mit einem einzigartigen satirischen Humor und eindrucksvollen Charakteren mit starker Ausdruckskraft ergeben das stimmige Gesamtkonzept dieser Produktion.  
Vor allem den jugendlichen Darstellern kann bei dieser Inszenierung ein großer Teil des Erfolgs zugeschrieben werden, denn kaum ein anderes Stück lebt so sehr von der Energie der  Mitwirkenden wie "Fack ju Göhte". Das Team hat bei den Castings für dieses Musical wirklich ein geschicktes Händchen bewiesen, denn jede einzelne Rolle wurde optimal besetzt und von dem jeweiligen Darsteller mit viel Hingabe und Humor zum Leben erweckt.


Daron Yates steht aktuell als Aushilfslehrer "Zeki Müller" auf der Bühne und verkörpert die Rolle mit einer sichtbaren Spielfreude. Nicht nur optisch ist der Darsteller einfach wie geschaffen für diese Rolle, auch schauspielerisch ist Daron eine optimale Besetzung. Ihm gelingt es über drei Stunden hinweg, die gesamte Komik der Figur in Szene zu setzen und dabei niemals den eigentlich weichen und gefühlvollen Kern der Rolle aus den Augen zu verlieren. 

Die junge und unsichere Lehrerin "Elisabeth Schnabelstedt" wird von Johanna Spantzel gespielt, die ebenfalls mit einem großartigen Schauspieltalent überzeugen kann. Innerhalb der Rolle entwickelt sie sich von einer völlig verunsicherten und penibel korrekten Lehrerin zu einer vor Selbstbewusstsein strahlenden sympathischen jungen Frau. Zwischen Johanna und ihrem Spielpartner Daron stimmt - im wahrsten Sinne des Wortes - einfach die Chemie. Gemeinsam entwickeln die Beiden vor den Augen der Zuschauer eine kunterbunte Liebesbeziehung mit allen Höhen und Tiefen, die zunächst geprägt ist durch große Ambivalenz. 


In der Rolle der "Direktorin Gerstner" kann das Publikum allabendlich Elisabeth Ebner erleben, die mit humorvollen sowie bissigen Dialogen und einer energiegeladenen Stimme die Zuschauer beeindruckt und für so manchen Lacher sorgt. Mit einem einzigartigen komödiantischen Talent erweckt sie diese sehr ungewöhnliche Rolle der Direktorin, die man wohl niemals ohne ihren geliebten Klebstoff antreffen wird, zum Leben.

Sandra Leitner verkörpert die Rolle der "Laura Schnabelstedt" und kann dabei sowohl mit einer gefühlvollen und zugleich kräftigen Stimme als auch mit einem sehr gelungenen Schauspiel glänzen. Während der Vorstellung kann Sandra viel unterschiedliche Facetten der Rolle zeigen und genauso wie ihre Bühnenschwester "Elisabeth Schnabelstedt" eine authentische Entwicklung präsentieren.  Glaubhaft stellt die junge Künstlerin dar, wie sich die Außenseiterin der Schule, welche mit vielen Sorgen und Problemen zu kämpfen hat, sich zu einer beliebten und selbstsicher auftretenden jungen Frau verändert.

Fabian Kaiser steht als Cover für die Rolle des "Danger", dessen überdrehtes und teils recht aggressives Verhalten seinen Ursprung in einer Erkrankung findet, auf der Bühne des Theaters im Werksviertel. Trotz all der Authentizität, die Fabian in den Schulalltag des Charakters bringt, kann der Schauspieler auch mit vielen derben Sprüchen seinen Sinn für Humor unter Beweis stellen. Zudem überzeugt der Darsteller vor allem im zweiten Akt mit grandiosen Rap - Passagen und bringt so nicht nur über die realistisch dargestellt Aggressivität viel Enrgie in den Verlauf der Show.


Rebekka Corcodel kann in ihrer Rolle der "Chantal" mit unglaublich vielen Klischees und Bildern, die sich in den Köpfen der Gesellschaft etabliert haben, spielen. Nicht nur ihre aufgesetzte Sprechstimme und ihr Äußeres, nein, auch ihre Gestik und Mimik geben deutliche Einblicke in den "oberflächlich" wirkenden Charakter der "Chantal". 

Die Rolle des Einzelgängers "Jerome" wird mit viel Witz und Spielfreude von Robin Cadet verkörpert. Der gebürtige Franzose spielt den typischen Streber, der aufgrund seines Wissens und der ständigen Demonstration dessen, von seinen Mitschülern täglich ausgegrenzt wird. Robin kann die Zuschauer nicht nur mit seinem exzellenten Tanztalent, sondern vor allem mit seinem überzeugenden Schauspiel begeistern. 

Anthony Curtis Kirby steht als "Burak" auf der Bühne und auch er bediehnt in seiner Rolle absolut Klischees, allen voran das Klischee des "bildungsfernen" (Aussage von Frau Gerstner) Jugendlichen mit Mirgrationshintergrund, dessen größtes Problem in der Integration liegt. Anthony erzählt mit viel Hingabe seine eigene kleine Geschichte der Rolle, sodass die Zuschauer ihm auf der Bühne jedes einzelne Wort abnehmen und während der Show förmlich an seinen Lippen kleben. Seine Nähe zum Publikum macht den Darsteller für die Zuschauer noch sympathischer und verringert die sonst im Theater eher größere Distanz zwischen Publikum und Schauspieler.

Hauptdarsteller, sowie Ensemblemitglieder, die in Windeseile von einer Rolle in die andere schlüpfen und ständig Charaktere neu entdecken müssen, sind das Fundament des Stücks und reißen die Zuschauer mit einprägsamen Stimmen und humorvollen Dialogen mit. Ohne dieses großartige Ensemble, welches aus talentierten Darstellern, wie Enrico Treuse, Kevin Schmidt, Jessica Lappen, Jessica Rühle, Niklas Brunner und Elena Zvirbulis besteht, wäre eine solche Show überhaupt nicht möglich.


Das Konzept dieser Show basiert auf einem völlig neuen und bislang in der Musicallandschaft wohl eher unbekannten Ansatz. Mit "Fack ju Göhte - se Mjusicäl" wurde Mut zu der Umsetzung neuer und frischer Ideen bewiesen, die dem Genre Musical nich einmal ganz neue Türen öffnen. Warum nicht einfach einmal neue Wege einschlagen? Warum nicht bereits erarbeitete Möglichkeiten verfeinern, weiterentwickeln oder auch verändern? Allein das Ambiente und das damit verbundene Bühnenbild des Mjusicäls verweist auf dieses revolutionäre Konzept. Von außen gleicht das Theater einem Industriegebäude, im Inneren wird man durch das Schulinventar an seine eigenen Zeiten im Schulgebäude erinnert. Es gibt keine spektakulären und glitzernden Bühnenbilder, die Szenenwechsel und Umbauten werden von Turngeräten getragen, die zu den verschiedensten Möbeln umfunktioniert werden können. 
Auch die Musik spiegelt die neuen Ideen wider. Das Stück zeichnet sich besonders durch den unverwechselbaren Sprechgesang aus, der dem Ganzen eine gewisse Lockerheit verleiht, die gepaart mit energiegeladenen Raps das musikalische Konzept dieser Produktion ergibt. Songs, wie beispielsweise "Kaltes Wasser" oder auch "Hier kommt der Mob" gehen schnell ins Ohr und fesseln das Publikum an die Vorstellung.


Das Mjusicäl lebt vor allem durch die Interaktion zwischen Zuschauer und Darsteller. Bei dieser Inszenierung gibt es keinerlei Berührungsängste seitens der Schauspieler. Die Zuschauer werden durch die Nähe zur Bühne und zu den Akteuren Teil der Vorstellung und erleben einen unvergesslichen Abend!

Die Menschen, die diese Show auf die Beine gestellt haben, springen nicht nur allabendlich im Schulschwimmbad ins "kalte Wasser", auch mit der Umsetzung dieses neuen Konzeptes wurde ein Sprung gewagt. Die Skepsis war riesig, die Erwartungen gering, doch wer sich auf die neue Idee, die hinter dieser Produktion steckt, einlässt, wird begeistert sein. Das Stück ist neu und unkonventionell und bricht mit vielen der bisher bekannten Regeln. Dem Zuschauer wird in der Vorstellung zu jedem Zeitpunkt eine Wahl gelassen. Man hat die Möglichkeit, einfach einen amüsanten Abend zu erleben und sich von dem Witz des Stücks berieseln zu lassen. Wenn man jedoch bereit ist, hinter die plakativ dargestellten Fassaden der Charaktere zu blicken, dann wird man die Ernsthaftigkeit, die sich dahinter verbirgt, erkennen, denn trotz des unverwechselbaren Humors der Show, zeigt das Musical eigentlich tiefe Abgründe der Gesellschaft, die in unserem Alltag oft überspielt oder verschwiegen werden. 
Ich kann  nur abschließend sagen, überwindet eure Vorurteile und gebt dem Ganzen eine Chance, denn nur dann werdet ihr die Produktion mit all ihren Farben genießen können. Lasst euch einfach einmal von einer völlig neuen Show mitreißen und erlebt gemeindam mit der 10B einen einzigartigen Schulalltag...
Scheiß auf Schiller, Fack ju Göhte!

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