Jekyll & Hyde - Ein verführerisches Meisterwerk zwischen Fassaden und Abgründen der Menschheit

Was ist eigentlich "gut" und was ist "böse"? Kann der Mensch auf einen der Anteile verzichten oder bedingen sich die beiden Herzen, die in einem Körper zu schlagen scheinen? In Dortmund wird der Theater - Besucher aktuell mit genau diesen Fragen konfrontiert. "Jekyll & Hyde", eine fulminante Inszenierung, welche am vergangenen Samstag umjubelte Premiere im Theaterhaus Dortmund feierte, entführt die Zuschauer in eine andere Welt. Eine Welt, die so fremd und mystisch erscheint, die jedoch jeder von uns wohl in gewisser Weise kennt. Es ist eine Welt, die zwischen dem kategorischen "Gut" und "Böse" liegt, eine Welt, die ganz viel Fiktion verbirgt und die zugleich so viele Anknüpfungspunkte zur Realität präsentiert.
Das Theater Dortmund hat mit dieser Produktion ein Meisterwerk auf allen Ebenen geschaffen, das seinesgleichen sucht. Es wurde eine Inszenierung des Klassikers "Jekyll & Hyde" kreiert, die den Anspruch an sich selbst hegt, nicht nur qualitativ hochwertige Unterhaltung zu bieten, nein, sondern vielmehr das Publikum von der ersten Minute an einzufangen, mitzureißen, es Teil der Gechichte werden zu lassen. Doch lest selbst ; -)


Im Zentrum der Geschichte steht der Arzt und Wissenschaftler Henry Jekyll, dem trotz seiner Erfolge in der Medizin und seines Renommees viele Menschen sehr kritisch gegenüberstehen. Denn Dr. Jekyll und seine Forschungen sind stets in Bewegung. Er möchte in seinen Studien immer tiefer in die Seele des Menschen blicken und eroieren, inwiefern der Mensch eigentlich das Gute mit dem Bösen vereint. Nachdem sein Vater dem Wahnsinn verfällt und schließlich Opfer seiner eigenen Psyche wird, ist Henry fest davon überzeugt, ein Mittel zu testen, dass das Böse vom Guten des Individuums abspalten und schließlich eliminieren soll. Doch die Mitglieder des Vorstandes im Krankenhaus, mit deren Urteil alles steht und fällt, sind beinahe einstimmig gegen diesen Vorschlag und weigern sich hartnäckig,  diese revolutionäre Wissenschaft zu unterstützen. Henry bleibt mit seinen Ideen und seinem treuen Freund und Anwalt Gabriel John Utterson allein zurück. Einzig und allein bleibt ihm - neben seiner eigenen Willenskraft - die Unterstützung seiner Verlobten Lisa, die zwar oftmals von Dr. Jekyll aus seiner Welt der Wissenschaft und Erkenntnis ausgeschlossen wird, jedoch trotzdem willig ist, ihrem Verlobten jegliches Vertrauen entgegenzubringen und ihn bedingungslos zu lieben. 
Als Henry eines Abends in einem sehr zwielichtigen Etablissement auf die Prostituierte Lucy trifft, spürt er eine Veränderung und einen Anstoß tief in sich. Angezogen von Lucys vermeintlicher Verführung und ihrer in sich verborgenen Zärtlichkeit, erkennt Henry wieder einmal die Ambiguität innerhalb eines Menschen und wird auch wieder auf seine eigene Spaltung aufmerksam, die er laut seinen Forschungen in sich trägt. Inspiriert von diesem Schlüsselerlebnis ist Dr. Jekyll überzeugt, er muss seine eigenen Versuche an sich selbst testen, um der Welt zu beweisen, welche Veränderung der Menschheit sein Mittel bewirken könnte. Mit der Trennung seines bösen Geistes von der guten Seele scheint es möglich, alles Schlechte aus der Welt zu verbannen.
Mit jenem verhängnisvollen Abend nimmt das Schicksal seinen Lauf, das nicht nur das Leben Henrys, sondern auch das seiner Mitmenschen grundlegend verändern soll, denn sein Mittel bringt ungeahnte Kräfte mit sich, die im Zuge einer sehr dramatischen Entwicklung beweisen, dass das Gute ohne das Schlechte niemals überleben kann.


Erzählt wird die berührende und doch auch sehr schockierende Geschichte von einer brillianten Cast, die den Zuschauer mit ihrer Ausstrahlung und ihrer Stimmgewalt förmlich einfängt und ihn im Inneren Teil eines wahren Meisterwerks werden lässt.

In der Rolle des "Dr. Jekyll" und "Mr. Hyde" darf der Zuschauer in dieser Inszenierung eine einzigartige Sensation erleben, die so wohl noch auf keiner Musical - Bühne zu bewundern war. David Jakobs verkörpert diese tiefgründige, herausfordernde und in sich zerrissene Figur den gesamten Abend hinweg einfach meisterlich und begeistert in jeder Sekunde mit seiner Hingabe und Präsenz auf der Bühne. Mit einem bravourösen Schauspiel nimmt er das Publikum für sich und seine Rolle ein und fasziniert sowohl im Körper des nach Erkenntnis drängenden, wissensdurstigen Arztes, als auch im Hinblick auf seine Verkörperung des grausamen, rachsüchtigen Mr. Hyde, der immer da zu finden ist, wo viel Blut fließt. Es ist nur schwer in Worte zu fassen, mit welcher Brillianz David Jakobs die beiden Gegensätze seiner Rolle verkörpert, die Zerrissenheit zwischen ihnen widerspiegelt und sie auch zugleich in seiner Darbietung vereint. Insbesondere im Zuge seiner ersten Verwandlung von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde und im Hinblick auf die "Konfrontation" stockt den Zuschauern bei der Darstellung des Künstlers förmlich der Atem. Das Publikum hängt wie gebannt an Davids Lippen, fühlt mit ihm, leidet mit ihm, lebt mit ihm die beiden ambivalenten Seiten des Arztes aus, die zwar auf der Bühne vordergründig in zwei Charaktere gespalten scheinen, jedoch von dem Sänger fantastisch in einer Gesamtheit vereint werden, sodass bereits anhand der künstlerischen Interpretation deutlich wird, dass das Gute und das Böse eines Menschen in ständiger Wechselwirkung zueinander stehen. In einer Minute noch mitfühlend und empathisch, wird die Figur in der nächsten Minute wieder von ihrem verborgenen, skrupellosen "Ich" eingeholt, das die unterdrückten Seiten des Dr. Jekyll in vollen Zügen auslebt. Mit der Verwandlung des Jekyll verändert sich auch Davids gesamter Habitus. Ihm gelingt es großartig, beiden Figuren einen ganz eigenen Ausdruck durch unterschiedliche Klangfarben und einen sich verändernden Gestus zu verleihen. Trotz der scheusalhaften Impulse des Mr. Hyde füllt David den Charakter auch mit Zügen der Menschlichkeit.
Auch gesanglich präsentiert sich der Hauptdarsteller mit einer tausendprozentigen Leistung, die jeden einzelnen Song zu einem wahren Ohrenschmaus werden lässt. Davids Stimme geht immer wieder unter die Haut und rührt das Publikum zu Tränen. So ist es nicht verwunderlich, dass der Sänger nach Highlights, wie "Dies ist die Stunde" mit einem tosenden Beifall bedacht wird, der zu Recht einfach nicht enden will. Es ist nicht möglich, Davids Leistung so zu beschreiben, dass es ihm vollkommen gerecht wird, denn seine Darstellung des "Jekyll & Hyde" lässt den Zuschauer einfach nur sprachlos und überwältigt zurück, doch eines kann ich für mich definitiv festhalten: Die Darbietung David Jakobs war das größte Geschenk, das mir als Musicalbesucher jemals in einem Theater überreicht worden ist!


Ebenso wie Spielpartner David Jakobs glänzt auch Bettina Mönch mit ihrer facettenreichen und differenzierten Darstellung der Prostituierten "Lucy", die zwischen ihren ehrlichen Gefühlen zu Jekyll und der verführerischen Gefahr und Anziehung, die von Hyde ausgehen, innerlich zerrissen ist. Bettina gelingt es ebenfalls fabelhaft, die unterschiedlichen Charakterzüge in einer Figur zu vereinen und für den Zuschauer transparent werden zu lassen. Trotz Bettinas großem und umjubelten Openings verliert die Künstlerin niemals die zunächst verborgene Zerbrechlichkeit Lucys aus den Augen. Die Darstellerin versteht es meisterlich, die Fassade der Rolle mit ihren Emotionen, denen Lucy sich manchmal selbst gar nicht bewusst ist, in Einklang zu bringen. 
Gesanglich kann sich Bettina in ihren Liedern vollkommen austoben und nicht nur schauspielerisch, sondern auch stimmlich ihre unterschiedlichen künstlerischen Farben präsentieren.

Auch Milica Jovanovic bringt die Produktion mit ihrer Interpretation der "Lisa" zum Strahlen. Authentisch verkörpert sie die Verlobte Henry Jekylls - eine Frau voller Warmherzigkeit und Mitgefühl, die ihren zukünftigen Ehemann bis zum Schluss nicht aufgeben will und auch in der dunklen Seite des Charakters immer noch die eigentliche Liebe und Herzlichkeit Jekylls zu erkennen vermag. Milica erfüllt die Figur dank eines emotionsgeladenen Schauspiels und einer glasklaren Stimme mit einer wundervollen Wärme und Ruhe. Zudem gelingt es der Darstellerin ebenso phänomenal, die Stärke der emanzipierten Verlobten in ihr Spiel einzuflechten. Mit viel Fingerspitzengefühl stellt Milica dar, wie Lisa immer wieder an der zunehmenden Isolation Henrys zu zerbrechen droht und mit aller Kraft der Liebe gegen diesen gefürchteten Augenblick ankämpft. Milica macht es den Besuchern sehr leicht, sich selbst ein wenig in der Rolle zu finden und sich mit ihrem Innenleben zu identifizieren. 

Weiterhin überzeugt auch Morgan Moody als Henry Jekylls treuer Freund "Gabriel John Utterson" mit einem rundum gelungenen Auftritt, der die Zuschauer ebenfalls einlädt, in die Gefühlswelt des Anwalts einzutauchen und an dem Dilemma, in dem er sich aufgrund der Wesensveränderung seines Freundes befindet, Anteil zu nehmen. Morgan kreiert höchst authentisch einen ehrlichen und treuen Mann, der seinem besten Freund in jeder Situation zur Seite steht. Er versucht Henry mit großer Loyalität eine Stütze zu sein, doch ihm ist auch bewusst, dass er sich selbst dabei nicht aufgeben darf. Vor allem den Wunsch, seinem verzweifelten Freund zu helfen und die daraus resultierende Hilflosigkeit verkörpert der Darsteller mehr als glaubwürdig. Er steht seinem Bühnenpartner David Jakobs immer treu zur Seite, sodass der Zuschauer von Anfang an die Intensität dieser besonderen Freundschaft spüren kann.

Das gesamte Ensemble spielt in der allerhöchsten Liga des Genres. Die Darsteller harmonieren allesamt wunderbar und bilden eine sehr homogene Gemeinschaft auf der Bühne. Insbesondere die Größe des Ensembles und die daraus resultierende Stimmgewalt begeistern das Publikum. Künstler, wie Tom Zahner, Mario Ahlborn, Florian Sigmund, Johanna Schoppa, Thomas Günter, Georg Kirketerp und Johannes Knecht stechen mit besondern Solo - Auftritten heraus. Die Cast verleitet den Zuschauer scheinbar mühelos, ihr in eine andere Welt zu folgen und die Gefühle der Charaktere zu teilen. Solch eine Besetzung ist ein riesiger Gewinn für die Theaterwelt! 

Neben diesen beachtlichen Leistungen der Cast, trägt auch ein opulentes und unglaublich detailverliebtes Bühnenbild zu der hohen Qualität der Inszenierung bei. Es wurde eine Kulisse entworfen, die das Publikum wortwörtlich auf mehreren Ebenen ins Staunen versetzt und die einzelnen Handlungsschauplätze mit vielen kleinen Details sehr differenziert präsentiert. Dabei wird eine Drehbühne genutzt, die viel Raum für die schnellen Ortswechsel bietet. Insbesondere die Atmosphäre, ein ganz wichtiger Aspekt dieses Musicals, wird in den einzelnen Bühnenbildern sehr gekonnt verarbeitet. Düstere Elemente erschaffen eine geheimnisvolle und mystische Stimmung. Der im Untergrund versteckte Keller Henrys, der Ort der Forschung und Wissenschaft, projiziert visuell den Lebensraum Edward Hydes, die Sphäre des Bösen und macht so auch optisch die Kluft zwischen dem "Guten" und den tiefen Abgründen deutlich. Die Kulissen und Kostüme sind unglaublich aufwendig gestaltet und bieten dem Besucher neben der zahlreichen akustischen Geschenke auch visuell einen wahren Schmaus für die Augen.

Musikalisch zählt das Werk "Jekyll & Hyde" ohne Frage zu den Meisterwerken des Musicals. Die klassisch anmutenden Lieder, die von fantastisch ausgebildeten Sängern und einem sehr großen Orchester ihren Feinschliff erhalten, rühren zu Tränen und halten im Laufe der Show so manches Highlight bereit, das unvergessen bleibt. 

Die Dortmunder Inszenierung schreit nur so nach Lob, denn es ist eine Produktion auf allerhöchstem Niveau und künstlerisch sicherlich eine der besten Aufführungen, die jemals auf einer Musicalbühne zu erleben war. Man kann nur verblüfft den Hut ziehen vor dem, was dort auf die Beine gestellt worden ist. 
Selten zuvor hat eine Inszernierung so nachhaltig geprägt und bewegt. 
Ein Musical, das künstlerisch fasziniert, aber auch inhaltlich viele Anknüpfungspunkte zur Realität bietet und schon immer dagewesene Fragen der Menschheit aufgreift und in einem künstlerischen Rahmen musikalisch und darstellerisch verarbeitet. 
Diese Produktion dürft ihr nicht verpassen! Nicht nur interpretatorisch eröffnet das Stück ganz neue Blickwinkel, nein, jeder Zuschauer kann auch plötzlich tief verborgene Emotionen und Reaktionen auf das Schicksal Jekylls entdecken. Achtung, das Musical birgt eine hohe Suchtgefahr, denn dem Bann dieser Show kann man sich nur schwer wieder entziehen und vielleicht geht es euch nach einem Besuch auch so wie mir und ihr habt den Drang, sogleich neue Karten zu bestellen... 

            (c) Fotos: Theater Dortmund

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