Ein Hauch von Broadwayglanz in der Stiftsruine - "A Chorus Line", ein Spiegelbild der Menschlichkeit
Stell dir vor, du bist Tänzer, dein Zuhause ist die Bühne, deine Energie ziehst du aus der Strahlkraft der Scheinwerfer. Einst war der Tanz deine Flucht aus einem dunklen Alltag voller Kämpfe um Anerkennung, um Selbstwert, um Freiheit und um Autonomie; heute ist der Tanz zu deinem neuen Kampf geworden - ein Kampf um das nackte Überleben in einem schnelllebigen und kaltherzigen Showbusiness, das dich auffrisst, wenn du nicht lernst, die Sprache des Konkurrierens und Wetteiferns zu sprechen.
Und nun stell dir vor, es ist zu deinem Alltag geworden, dich Woche für Woche in den Ballettsälen deines Landes einzufinden und mit der bangen Hoffnung, dass es dieses Mal vielleicht klappen könnte, neue Choreografien in Windeseile zu lernen. Deinen Namen hast du selbst schon fast vergessen, da du dort in der Reihe junger Tänzer zu einer reinen Nummer degradiert wurdest. Um dich herum bewegt sich eine Vielzahl von jungen Menschen im Gleichschritt, ihre Gesichter spiegeln die gleichen Emotionen, die dein Herz fest umklammert halten: Anspannung, Verzweiflung, Angst, Neugierde und dieser kleine Funke Hoffnung, der dich davor bewahrt, die Spitzenschuhe an den Nagel zu hängen. Und dann kommt er, dieser alles entscheidende Augenblick. Du atmest tief ein, schließt die Augen und horchst auf die sonore Stimme des Regisseurs, der verkündet, dass...
Die Bad Hersfelder Festspiele statuieren Sommer für Sommer ein Exempel in Sachen kulturellen Genusses auf höchstem Niveau. Wenn die ersten Sonnenstrahlen das Herz erwärmen und die Blumen wieder in voller farblicher Pracht erblühen, dann erwacht die Hessische Festspielstadt zum Leben. Die Vorfreude wächst mit jedem Jahr und jeder damit verbundenen Erfahrung künstlerischer Genialität, doch den kreativen Köpfen gelingt es alljährlich aufs Neue, an die großen Erfolge der zurückliegenden Sommermonate nahtlos anzuknüpfen und den Wunsch des Publikums nach magischen Reisen in die Weiten der theatralen Welt mit Festspielerlebnissen höchster Qualität zu befriedigen. Ein Herzstück des reichhaltigen kulturellen Programms bildet in dieser Saison die Musicalproduktion "A Chorus Line" ab, die den Theaterbesucher inmitten der atmosphärischen Kulisse der Stiftsruine geradewegs in eben jenes zuvor beschriebene Szenario katapultiert und zu einem Tanz zwischen Angstschweiß und Freudentränen lädt. Erstmals darf die Produktion im deutschsprachigen Raum in freier Inszenierung und mit neuer Übersetzung gezeigt werden und für diese besondere Premiere setzt das Team kreativer Köpfe auf eine Kombination eines erstklassig besetzten Ensembles, einer atmosphärischen Kulisse sowie eines qualitativ wie quantitativ beachtlichen Orchesters, die dem Festspielpublikum verspricht, einen jener Theaterabende zu erleben, die künstlerische Ästhetik mit menschlicher Wahrhaftigkeit verweben.
(c) BHF/S. Sennewald
Das Musical "A Chorus Line" erzählt die mitreißende Geschichte von sehnsuchtsvollen Träumen und dem bitteren Erwachen in der Realität, von der Härte des Showbusiness und der menschlichen Wärme, die manchmal dort schlummert, wo man es am wenigsten vermutet, sowie von dem ängstlichen Untertauchen im Schutz der anonymen Masse und dem mutigen Heraustreten in aller Individualität, Andersartigkeit und Emotionalität.
Der erfolgreiche Regisseur "Zach" sucht unter einer Vielzahl von Bewerbern nach den vier Tänzer*innen, die sein Ensemble rund um eine neue Show am Broadway zukünftig komplettieren sollen. Zahlreiche junge Künstler folgen seinem Ruf zu den Auditions, in Erwartung des altbekannten tänzerischen Auswahlverfahrens. Doch lassen die in kürzester Zeit einzustudierenden Choreografien anfänglich noch auf genau solch einen Wettstreit in Sachen Beweglichkeit, Dynamik und Körperlichkeit schließen, wird die Riege junger Tänzer schon bald von den eigenwilligen Methoden Zachs überrascht. Der Starregisseur strebt stets nach der höchsten Qualität für seine Produktionen. Entscheidungen rund um Besetzungsfragen trifft er niemals leichtfertig und so genügt es ihm nicht, sich - wie so viele seiner Kollegen - ein Bild von der Physis des Bewerbers zu verschaffen. Zach will hinter die Fassaden der jungen Künstler blicken, den Menschen hinter der Castingnummer kennenlernen. Und so nimmt ein Auditiontag seinen Lauf, der an längst verdrängten Geschichten rühren und die jungen Tänzer auf eine Reise zu sich selbst schicken soll, die sie sowohl in die tiefsten Abgründe als auch in die glücklichsten Erinnerungsbilder ihrer individuellen Lebensgeschichten blicken lässt.
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Arne Stephan brilliert in der Rolle des perfektionistischen Erfolgsregisseurs "Zach", der sich von Perfektionismus und Arbeitswut getrieben in die Suche nach Exzellenz stürzt und dabei zunehmend erkennen lernt, dass die wahre Schönheit des Menschen manchmal in den kleinen Macken, den individuellen Schwächen und den gut gehüteten Geheimnissen von Verletzlichkeit und Sehnsucht verborgen liegt. Meisterhaft gelingt es dem Schauspieler, eine nuancierte, ausdrucksstarke Fassung der Figur zu kreieren, die zwischen scheinbarer Härte und von den Mauern mühsam erarbeiteter Professionalität sorgsam verborgenen Menschlichkeit und Warmherzigkeit changiert. Mit einer beeindruckenden Portion Fingerspitzengefühl verleiht Arne Stephan der Figur eine charakterliche Vielschichtigkeit und zeichnet einen Regisseur, der von seinen Tänzern höchste Qualität und unermüdlichen Fleiß einfordert und zugleich den Raum schafft, hinter die sonst vom Showbusiness so vehement geforderten Fassaden junger Menschen zu blicken, deren Träume aus den unterschiedlichsten Geschichten geboren wurden. In seinem schauspielerischen Wirken, das über den gesamten Abend hinweg von einem brillanten Verständnis für Figuren und narrative Momente zeugt, umgeben den Schauspieler eine eindruckvolle Präsenz sowie ein einzigartiges Charisma, das sich in der expressiven Darbietung niederschlägt und es dem Publikum wann immer möglich verwehrt, den Blick von der spielerischen Pracht des Darstellers abzuwenden. Sprachlich spielt der Künstler auf beeindruckende Weise mit seiner Intonation und verleiht sowohl den präzise getakteten Auditionszenen als auch den ruhigen, gefühlvollen Momenten der Zwischenmenschlichkeit mit warmer Stimme Nachdruck. Abgerundet wird die phänomenale Darstellung von einer Eindringlichkeit in Gestus und Mimik, die immer wieder im Kontext der umrahmenden Videosequenzen in ausdrucksstarken Nahaufnahmen eingefangen wird und dem Theaterbesucher das Gefühl vermittelt, scheinbar bis auf den Grund der figuralen Seele Zachs blicken zu können.
In der Rolle der hoch talentierten Tänzerin "Cassie", die in ihrer Karriere bereits sowohl den hohen Flug als auch den tiefen Fall eines schnelllebigen Bühnengeschäftes hautnah erleben musste, weiß Emma Kate Nelson mit einem rundum herausragenden Auftritt zu begeistern. Mit der Strahlkraft einer exzellent ausgebildeten Darstellerin bewegt sich die Künstlerin sicher durch die emotional konnotierten Momente ihrer Figur und kreiert einen nahbaren Charakter, der seinen Platz auf den Bühnen dieser Welt sucht und sich danach sehnt, endlich wieder jene Lebendigkeit zu spüren, die sich in der Flaute seit dem letzten großen Engagement einfach nicht mehr einstellen will. Gefühlvoll schafft die Darstellerin eine starke Persönlichkeit, die für ihre Träume kämpft und sich selbst im Hintergrund des ihr einst zugewiesenen Platzes im Scheinwerferlicht ganz neu kennenlernt. Besonders überzeugend gestaltet sich hierbei das harmonische Zusammenspiel mit Bühnenpartner Arne Stephan, das intime Momente inmitten des großen Auditoriums der Stiftsruine aufleben lässt und den Zuschauer mit einer von aufgestauten Emotionen geprägten Interaktion zwischen zwei Charakteren konfrontiert, die eine gemeinsame Vergangenheit teilen. Mindest ebenso beeindruckend wie Emmas Spiel präsentieren sich auch Tanz und Gesang. Im Rahmen der großen Nummer "Musik und ein Spiegel" scheinen sich die tänzerische Leichtigkeit und Anmut der Künstlerin mit ihrer fantastischen Stimme zu verbinden und verschmelzen zu einem emotionsgeladenen Konglomerat musikalischer Schönheit.
(c) BHF/Johannes Schembs
Myrthes Monteiro verkörpert die Rolle der "Diana" mit künstlerischer Hingabe sowie spielerischem Temperament und glänzt in der dargebotenen Triade ausgezeichneten Handwerks, das sich auf den Ebenen von Tanz, Gesang und Schauspiel entfaltet. Bravourös meistert die Darstellerin die mannigfaltigen Herausforderungen eines anspruchsvollen Rollenprofils, das nach der Präzision einer umfassend ausgebildeten und in allen Dimensionen des Genre Musicals versierten Künstlerin verlangt. Myrthes vermag es mit scheinbarer Mühelosigkeit, einen jungen Wirbelwind zum Leben zu erwecken, der nach außen hin mit selbstsicherer und einnehmender Strahlkraft ein Bild der temperamentvollen, attraktiven Tänzerin umreißt, und zugleich im Inneren mit den ganz natürlichen Sorgen und Ängsten einer jungen Frau zwischen Erfolg und Leidenschaft zu kämpfen hat. Dank ausgefeilten Schauspiels, das sich besonders bemerkenswert über die fein nuancierte Mimik der Darstellerin abzeichnet, fällt es dem Zuschauer nicht schwer, Blicke hinter die Fassade der energetischen Tänzerin zu erhaschen und ein Verständnis für die bewegenden Hintergründe der jungen Frau zu entwickeln. Auf gesanglicher Ebene eröffnet sich für Myrthes in der Rolle zudem die Möglichkeit, ihre gesamte Stimmgewalt unter Beweis zu stellen und in der Verbindung von kraftvollen musikalischen Arrangements und ganz zarten, berührenden Momenten eine fulminante Komposition gesanglicher Variabilität zu generieren.
(c) Steffen Sennewald
Weiterhin weiß Pascal Cremer mit seiner ausgefeilten Interpretation des exzentrischen "Bobby" auf ganzer Linie zu überzeugen und die Zuschauer mit seinem selbstsicheren Spiel zu fesseln. Kleidet sich seine figurale Darstellung über weite Strecken in ein provokantes, aufreizendes Gewand, lässt der Künstler in spielerischer Präzision immer wieder die Schutzmauern der egozentrischen Attitüde bröckeln und macht die dahinterliegende Verletzlichkeit des Charakters transparent. Bobby entpuppt sich hier als wahrer Überlebenskünstler, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, seine schicksalsträchtige Vergangenheit hinter der Fassade einer unantastbaren Kunstfigur zu verbergen. Pascal Cremer balanciert in seinem Spiel eben jene künstlich kreierte Erhabenheit einer schillernden Persönlichkeit mit stetig aufblitzenden Momenten der Sensibilität aus, die einen Blick auf Bobbys wahrhaftigen menschlichen Kern und all den mühsam zurückgedrängten Schmerz gewähren. Meisterhaft gelingt es dem Darsteller dabei, pointiert die humorvollen Augenblicke, welche sich aus der exaltierten Fassade des jungen Mannes entspinnen, im Kontext punktgenau gesetzter Mimik und Gestik auszuspielen, und zugleich nicht vor der emotionalen Tiefe des Charakters zurückzuschrecken.
Olivia Grassner mimt die Rolle der "Sheila" mit spielerischer Sicherheit und Raffinesse und zeichnet somit in scheinbarer Leichtigkeit das authentische Bild einer schlagfertigen Künstlerin, die für die Bühne geboren zu sein scheint, doch sich zunehmend mit den natürlichen physischen Herausforderungen konfrontiert sieht, die sich mit jedem Jahr mehr einschleichen. Ihre Interpretation der extrovertierten Tänzerin ist kess und verbindet die erfrischende Jugendlichkeit des temperamentvollen Charakters mit einer gewissen Portion Lebenserfahrung und Abgeklärtheit. Insbesondere der beeindruckenden Bühnenpräsenz Olivias ist es zu verdanken, dass die Figur der "Sheila" sich schnell zu einer jener Indentifikationsfiguren mit einnehmendem Wesen entwickelt, die nach außen hin ihre Charakter- und Willensstärke dominant ausleben und zugleich Spuren ihrer Vergangenheit unter der impulsiven Oberfläche tragen. Eindrücklich wie das kraftvolle Schauspiel der Darstellerin, im Rahmen dessen sie eine selbstbewusste Frauenfigur mit emotionaler Tiefe kreiert, präsentiert sich auch ihre gesangliche Erstklassigkeit, die sich aus einem bemerkenswerten stimmlichen Vermögen speist. In warmer, klangvoller Intonation koloriert die Sängerin die ihr zugewiesenen gesanglichen Parts und lässt gemeinsam mit ihren Kolleginnen die Nummer "Im Ballettsaal" zu einem der musikalischen Höhepunkte des Abends erwachsen.
(c) BHF/S. Sennewald
"A Chorus Line" lebt von der Ensembleformation, im Rahmen derer keine Differenzierung zwischen Haupt- und Nebenrolle vorgenommen wird. Jedem einzelnen Darsteller ist hier sein persönlicher Platz im Kontext einer kraftvollen Gruppe zugeteilt. Jedes Mitglied dieser bunten, ausdrucksstarken und dynamischen Gruppe tritt hier als persönlicher Geschichtenerzähler auf - mal ganz präsent im Scheinwerferlicht, mal eher verdeckt im Hintergrund des Geschehens - und spinnt mit viel Feingefühl seinen Faden für das große Netz an Charakteren, Erinnerungen und Gefühlen, das diesem Stück seine Wahrhaftigkeit sowie Lebendigkeit verleiht.
Da ist die Rolle der eher introvertierten "Maggie", die von Kelly Panier mit sichtlicher Spielfreude und gesanglicher Exzellenz fabelhaft ausgefüllt wird. Da ist die Figur der exzentrischen, selbstbewusst auftretenden "Val", die sich dank der rundum herausragenden Interpretation von Darstellerin Clara Mills-Karzel immer wieder durch die gelungene Mischung von punktuell eingestreuter Komik und ernsthafter, tiefgreifender Botschaft hervortut. Johan Vandamme besticht in der Rolle des "Mike" durch seine besondere Präsenz und seine grundsympathische Ausstrahlung, die es dem Publikum von Beginn an leicht macht, eine Nähe zu dem jungen Tänzer und seiner Geschichte aufzubauen. Ein herrliches Duo formen zudem Benjamin Sommerfeld als "Al" und Maria Joachimstaller als "Kristine", die das skurrile Paar mit sichtlicher Spielfreude und komödiantischem Talent mimen und im Rahmen des auflockernden Duettes "Sing!" in herrlichem Zusammenspiel ihr Verständnis für humoristische Pointen offenbaren. Alan Byland überzeugt als ausdrucksstarke Assistenz des Regisseurs und bringt in der Rolle des "Larry" seine gesamte tänzerische Präzision zum Ausdruck.
Die Liste ließe sich ewig fortsetzen, denn für die Bad Hersfelder Inszenierung wurde ein solch talentiertes Ensemble starker Persönlichkeiten gecastet, dass es dem Zuschauer angesichts dieser künstlerischen Finesse manchmal schier die Sprache verschlägt. Jeder Darsteller füllt seine Rolle mit viel Herzblut und emotionaler Intelligenz aus und lebt den Charakter auch in jenen Momenten, in denen die Figur in das Dunkel der Bühne eintaucht und andere Charaktere in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Die Show zieht wie kaum eine andere Produktion ihre gesamte Kraft aus der Exzellenz eines Ensembles, das Homogenität und künstlerische Harmonie mit kreativer Individualität verknüpft.
Vor dem Hintergrund eines nervenaufreibenden Auditiontages entspinnt das Musical ein buntes Potpourri differenter Lebensgeschichten, die in ihrer Ausgestaltung nicht vielfältiger sein könnten, doch alle schließlich in dem Traum vom Tanz über die Bretter, die die Welt bedeuten, münden. Die Idee, die gesamte Geschichte aus einem einzigen Castingtag zu speisen, an dem die jungen Bewerber*innen sich selbst und ihre Mitstreiter noch einmal in ganz neuem Licht kennenlernen, zeugt gleichermaßen von einer Simplizität wie Genialität. Erzählt wird keine komplexe Handlung mit rasanten Schauplatzwechseln, stattdessen setzt "A Chorus Line" vielmehr auf die Kraft persönlicher Geschichten nahbarer Charaktere, deren Menschlichkeit und Vulnerabilität ein hohes Identifikationspotenzial generieren. Blitzlichtartig gewähren die Figuren - manchmal sehr extrovertiert, aber oftmals auch ganz zaghaft und leise - Einblicke in berührende Momente ihrer biografischen Wege, die von schmerzvollen Erfahrungen und neuen Chancen erzählen.
(c) BHF/Johannes Schembs
Getragen wird das große Medley persönlicher Lebensgeschichten und Erinnerungen von einer schwungvollen musikalischen Linie, die Jazzklänge und schmissige Arrangements mit klassischen Musicalballaden zu verbinden weiß. Ensemblenummern und kraftvolle Soli reihen sich aneinander und verweisen in ihrer konzeptionellen Verschränkung auf den für das gesamte Stück so zentralen Konflikt zwischen der Einzigartigkeit des Individuums und der Synchronität einer homogenen Einheit. Unter der Leitung von Christoph Wohlleben spielt das große Orchester der Bad Hersfelder Festspiele voller Esprit und Leidenschaft auf und bereitet den fantastischen Kompositionen mittels enormer orchestraler Pracht das perfekte Fundament, um die volle Kraft der mitreißenden Arrangements vor dem Hintergrund einer voluminösen Klangkulisse zu entfalten.
Die grandiosen Choreographien von Melissa King übersetzen die Sprache der Musik zudem auf beeindruckende Weise in ein visuell imposantes Gesamtkunstwerk, das entsprechend der Thematik rund um ein Auswahlverfahren junger Tänzer*innen auf die veredelnde Würze von Beweglichkeit und Ästhetik setzt. Das Aufgebot spektakulärer Choreographien findet dabei wohl seinen absoluten Höhepunkt in der atemberaubenden Abschlussnummer, die in perfekter Kombination von Schritten und Kostümen endgültig ein Stück Broadway in die Hessische Kurstadt transportiert.
Das Bühnenbild orientiert sich an der schlichten und zugleich so unglaublich wirkungsvollen Konzeption der narrativen Grundidee. Ebenso wie in puncto Geschichte und Erzähltechnik wählt das Team rund um Bühnenbildnerin Karin Fritz bei der szenischen Umsetzung eine schlichte visuelle Rahmung, die vor dem ohnehin schon beeindruckenden Gemäuer der Stiftsruine wunderbar zum Tragen kommt. Die Idee, die Kulisse beinahe ausschließlich über bewegliche Spiegelwände zu gestalten, entpuppt sich im Rahmen des inszenatorischen Gesamtwerks als einfach wie genial. Das Bühnenbild spielt hierbei gekonnt mit der visuellen Opulenz eines großen, dynamischen Ensembles und fängt die mitreißenden Choreografien in mehrdimensionaler Pracht ein. Zugleich gewährt die Kulisse im schlichten Gewand den nötigen Raum, die Charaktere ihre persönlichen Hintergründe erzählen zu lassen und fungiert dabei hin und wieder ganz geschickt als Spiegel der figuralen Seelen. Als kleiner Geniestreich erweist sich zudem die Inklusion zweier das Geschehen rahmender Videowände, auf denen immer wieder Sequenzen gezeigt werden können, welche bereits vor Beginn der eigentlichen Vorstellung dank herrlich zusammengeschnittener Aufnahmen in das Szenario eines nervenaufreibenden Castings einführen und eine atmosphärische Introduktion in die Geschichte leisten. Das gesamte Bühnendesign eröffnet dem Besucher ein Theatererlebnis der Multiperspektivität, im Rahmen dessen sich die verschiedenen Blickwinkel - eingefangen im frontalen Bühnengeschehen, im rückwärtigen Spiegelbild sowie in den variabel angepassten Videoausschnitten - zu einem bunten Kaleidoskop der Visualisierung vereinen.
(c) BHF/Johannes Schembs
Mit der Neuinszenierung des Broadway-Klassikers "A Chorus Line" ist es den Bad Hersfelder Festspielen gelungen, den Glanz des großen amerikanischen Musiktheaters mit der für dieses Stück so charakteristischen Tiefe menschlicher Geschichten und ehrlicher Emotionen zu einem akustisch wie optisch überwältigenden Gesamterlebnis zu verbinden. Jedem der vielschichtigen Charaktere wird hier der Raum zuteil, als schillerndes Steinchen eines großen, imposanten Mosaiks mit ganz persönlicher farblicher Schattierung aufzutreten. Narrativ kunstvoll und zugleich sehr verdichtet erzählt, reflektiert das Musical sich selbst und blickt metaperspektivisch hinter die Kulissen eines Showgeschäfts, das es sich zum Ziel gesetzt hat, sein Publikum zu faszinieren und doch dabei manchmal allzu leichtfertig eben jene Menschlichkeit ausklammert, die es braucht, um Zuschauer tatsächlich berühren und mit dem Dargebotenen bis ins Mark treffen zu können. Die Produktion zeugt von einer besonderen Authentizität, sie zeichnet Charaktere, die allesamt so dem alltäglichen Leben entsprungen sein können und den Theaterbesucher auf einer ganz reinen, persönlichen Herzensebene ansprechen. Ein Auditiontag, der zunächst scheint wie jeder andere, entpuppt sich für die Teilnehmenden nach und nach als bewegendes Kennenlernen der eigenen Person in einem Meer von Geschichten und Emotionen, dessen überwältigender Flut sich niemand entziehen kann. An der Seite gänzlich fantastisch ausgefüllter Charaktere begleitet der Festspielbesucher eine fesselnde Reise durch Träume und Sehnsüchte, sieht, wie Hoffnungen zerplatzen und Identitäten freigelegt werden und blickt dabei auf ganz berührende Weise einem kleinen Stück seiner selbst ins Gesicht - einem Stück Verletzlichkeit und Unsicherheit, das doch zugleich den mutigsten Kern des Menschsein auszumachen scheint.
(c) BHF / S. Sennewald
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