Revolution zwischen den Schatten der Vergangenheit und den Sehnsüchten der Zukunft - "Die Räuber", ein atmosphärisches Kunstwerk im mutigen Farbenrausch
"Dreifach ist der Schritt der Zeit: Zögernd kommt die Zukunft hergezogen, pfeilschnell ist das Jetzt verflogen, ewig still steht die Vergangenheit." (Friedrich Schiller)
Kennst du den Moment, diesen kurzen Moment - der in seinem Entstehen bereits von der tanzenden Flüchtigkeit des Lebens umgarnt wird -, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die Hände nacheinander ausstrecken und für einen kurzen Augenblick alle gleichermaßen in der Kraft alter Wunden, gegenwärtiger Gedanken und in die Ferne ausgerichteter Hoffnungen spürbar werden?
Ohne das Gestern gibt es kein Heute, doch was wäre das Heute, wenn kein Morgen existieren würde? Das Leben ist vergänglich, doch sind es das Leid und die Liebe in eben jenem Maße? Kann man den Schatten seiner Vergangenheit abschütteln, ohne dass das Morgen an Licht und Glanz verliert?
All diesen Fragen widmet sich eine Produktion der Bad Hersfelder Festspiele in dieser sommerlichen Theatersaison auf ganz besondere Weise und ergründet dabei die Geschichte zweier Menschen, deren Verbundenheit im Familienbande sie in die tiefsten Abgründe moralischer Graustufen hineinzustoßen vermag. Mit Friedrich Schillers "Die Räuber" wird in diesem Theatersommer ein wahrer Klassiker zum Leben erweckt, doch wer sich nun bereits kopfschüttelnd abwenden und den Erinnerungen an trockene Lektüreerfahrungen seiner Jugend entsagen will, dem sei an dieser Stelle prophezeit: Ein solches Theateropus in aller Genialität wie Intensität habt ihr noch nie erlebt. Statt die Riege an klassischen Schauspielinszenierungen um eine weitere Episode der "Räuber" zu bereichern, haben es sich die kreativen Köpfe in diesem Jahr zur Aufgabe gemacht, ganz neue Wege in der Umsetzung eines historischen Weltstoffes zu begehen und die Metamorphose der Moor-Familie in der Kreuzung traditioneller Texte und moderner Lieder der deutschen Punkrock-Geschichte zu verbinden. Unter Einbindung der Songs von der Band "Die Toten Hosen" ist eine Inszenierung gewachsen, die ein rohes, wildes und raues Aufbegehren mit kunstvoller Ästhetik vereint und in der Idee, alle Facetten des Dargebotenen greifbar, ja, spürbar für das Publikum zu machen, fortlaufend aufs Gaspedal tritt. Mutig, leidenschaftlich und eindringlich kleidet die Festspielinszenierung den klassischen Stoff in ein neues Gewand und webt dabei mit feinem Garn die Fäden einer rundum durchdachten Produktion.
Erzählt wird eine in aller narrativen Wucht packende Geschichte rund um Feindschaft und Rebellion im Raum zwischen familiärem Kosmos und gesellschaftlicher Weite.
Von Kindesbeinen an wird das Leben der beiden Brüder Karl und Franz von Rivalitäten bestimmt. Im Hause Moor dominieren Wettkampf, Feindschaft und Missgunst das Zusammenspiel der Sprösslinge. Während Karl als Älterer der Beiden zukünftig das Erbe seines Vaters antreten wird, scheint Franz, dem die Zuneigung seines Vaters zu seinem Bruder ein Dorn im Auge ist, mit leeren Händen auszugehen. Getrieben von Neid und Gier entspinnt Franz schließlich einen teuflischen Plan und legt seinem Vater einen fingierten Brief, unterzeichnet mit dem Namen seines Bruders, vor, in dem Karl sich zu vermeintlichen Gräueltaten bekennt. Bestärkt von Franz lässt der Vater sich dazu hinreißen, seinen geliebten Sohn zu verstoßen. Als Karl der ablehnende Antwortbrief seiner Familie erreicht, ist dieser völlig verzweifelt und versteht die Welt nicht mehr. Wie kann es sein, dass sein Vater auf die von ihm aufgesetzte freudige Mitteilung einer baldigen Rückkehr nach Hause mit solch einer Abweisung reagiert? Verbannt und von der Welt verraten stößt die Idee seiner Freunde, eine Räuberbande zu gründen und sich gegen das Unrecht mit harten Mitteln zur Wehr zu setzen, auf fruchtbaren Nährboden und löst eine Euphorie in dem verzweifelten Mann aus, der zum neuen Oberhaupt der raubenden und kampfwütigen Horde wird. Währenddessen sieht Franz im heimischen Anwesen endlich seine große Chance gekommen, seinen Bruder vom Thron zu stoßen, sodass ihm die Lügen und intriganten Spiele immer leichter von der Hand gehen. Nicht nur das Vermögen und der Titel seines Vaters sollen ihm gehören, nein, auch im Anspruch auf Amalia, die Geliebte seines Bruders, wähnt sich Franz in zunehmender Sicherheit, die lediglich durch die resolute, abweisende Art seiner potenziellen Zukünftigen bedroht scheint. Doch im Angesicht eines neuen Lebenswegs, der sich in ganz differenter Weise eröffnet, wird jeder der beiden Rivalen in unterschiedlichen Kontexten mit ähnlichen Fragen konfrontiert: Kann man sich von den Geistern seiner Vergangenheit befreien? Was bist du bereit, für deine Ziele zu investieren und kann man in menschlichen Abgründen überhaupt Hoffnung auf das eigene Seelenheil finden? Ein Wettlauf beginnt, der beide Brüder an die Grenzen ihrer Existenz bringen soll...
(c) Bad Hersfelder Festspiele/S. Sennewald
Yascha Finn Nolting mimt die Figur des "Karl von Moor" in all seiner spielerischen Präzision bravourös und begeistert das Publikum mit einer Darbietung, die sich angesichts des bemerkenswerten künstlerischen Einfallsreichtums nicht anders als atemberaubend beschreiben lässt. Von seiner Familie verstoßen und von Intrigen umzingelt, begeht Karl die Flucht aus seinem bisherigen Leben, streift seine ihm vertraute Identität ab und wird zum Anführer einer Räuberbande, der die Kumpanen mit seiner zunehmenden Kompromisslosigkeit zu fesseln weiß. Der Darsteller arbeitet diese Entwicklung vom verstoßenen, verletzten Sohn hin zu einem starken Räuberhauptmann hervorragend heraus und substituiert dabei doch niemals gänzlich den Kern der Figur, wie das Publikum sie zu Beginn der Geschichte kennenlernt, durch die neue Gestalt des radikalen Revolutionärs. Dank Yaschas gekonnten Spiels blitzt durch die harte Fassade des Räubers immer wieder die Emotionalität eines von Verletzungen gezeichneten Mannes, der sich nach seinem Zuhause und dem Gefühl der Liebe sehnt, sodass die Verkörperung sich einer menschlichen Vielschichtigkeit erfreut. Mit künstlerischem Feingefühl kreiert der Darsteller einen gebrochenen jungen Mann, der in der Entfernung zu seiner Familie alles aufgeben muss, um sich selbst zu retten, und dabei fremde Seiten an sich selbst kennenlernt, denen er sich stellen muss. Der Künstler taucht über den Abend hinweg gänzlich in das Innenleben der Figur ein, die sich zunehmend in die Enge getrieben fühlt und in dem Kampf um Freiheit und Rebellion mit einer dieser Vision konträr entgegenstehenden Empfindung der Gefangenschaft konfrontiert wird, und gibt sich der charakterlichen Zeichnung mit solch einer bemerkenswerten Hingabe hin, dass in dem Spiel mit feinen Nuancen ein junger Mann an Kontur gewinnt, zu dem sich das Publikum in aller Tragik und Schicksalhaftigkeit emotional verbunden fühlt. Yascha greift dabei auf alle Register des spielerischen Handwerks zurück, sodass sich die Zerrissenheit zwischen drängendem, expressivem Aufbegehren und verzweifeltem Rückzug von der Welt, der sich von immer wieder aufkeimenden sehnsuchtsvollen Erinnerungen an das verlorene Heim nährt, in Mimik, Gestik sowie Intonation spiegelt.
Jene Emotionalität transportiert der Künstler ebenso exzellent im Rahmen seiner gesanglichen Darbietung, die in aller stimmlichen Klasse nicht nur die musikalische Impulsivität betont, sondern alle Nuancen intensiver Gefühlsexpressionen dezidiert herausarbeitet. Energetisch trägt Yascha mit seiner warmen Stimme die ausdrucksstarken Songs durch die Kulisse der Ruine und beweist im Sinne einer cleveren Textinterpretation sowie eines finessenreichens Spiels mit Dynamiken seine Kunst, musikalisch Geschichten zu erzählen.
(c) Bad Hersfelder Festspiele/S. Sennewald
David Jakobs vollbringt mit seiner Verkörperung des Bruders "Franz von Moor" eine nicht minder fulminante Leistung, die in ihrer Exzellenz in einer perfekten Symbiose von handwerklicher Präzision sowie spielerischer Hingabe wurzelt. Getrieben von dem Hunger nach Macht und rasend vor Eifersucht auf den älteren Bruder, dem stets alles in den Schoß zu fallen scheint, entscheidet sich der Jüngere der beiden Moor-Sprößlinge zu einem drastischen Schritt, der eine spätere Umkehr vereitelt und zu einem Verlust des moralischen Kompasses in den Verwirrungen der verletzten Seele führt. Mit viel Fingerspitzengefühl koloriert der Künstler in spielerischer Finesse einen raffgierigen Mann, der in eine zunehmende Besessenheit nach Macht stürzt, die ihn von den Grenzen der Moral abschirmt, und offenbart dabei in seinem Schauspiel zugleich eine tiefe Vulnerabilität als Ursprung aller skrupellosen Taten, die sich stets mit dem Schatten des älteren Bruders konfrontiert fühlt und nach Anerkennung lechzt. Es bedarf eines enormen künstlerischen Geschicks sowie eines tiefgreifenden figuralen Verständnisses, damit der Charakter nicht einfach als platte Verkörperung des puren Bösen fungiert, sondern vielmehr als grenzverschiebende Persönlichkeit erscheint, die jedoch stets mit den Schatten ihrer Vergangenheit konfrontiert und von den Silhouetten menschlicher Züge verfolgt wird. In seiner brillanten Darstellung weiß David die figurale Intriganz geschickt auszuspielen, sodass es dem Zuschauer angesichts der emotionalen Kälte Franz Moors das Blut in den Adern gefrieren lässt, und vermag es dabei aufgrund seiner emotionalen Intelligenz doch zugleich, eine Menschlichkeit hinter der moralischen Verdorbenheit erahnen zu lassen, die beispielsweise in Momenten der Angst transparent wird. Der Darsteller kostet spielerisch die Entschlossenheit des Charakters hervorragend aus und kleidet die Figur in ein imposantes Gewand voll abstoßender Raffgier, das in der physisch-mimischen Gestaltung einer ganz eigenen figuralen Körperlichkeit an Kontur gewinnt und entwickelt einen rundum abstoßenden, abgebrühten Charakter, der aber dennoch fähig ist, Gefühle zu empfinden. Komplettiert wird die herausragende Darbietung von einer gesanglichen Meisterleistung, die einmal mehr die stimmliche Qualität des Ausnahmekünstlers umschreibt und die kunstvolle Dimension des Werkes mit der Rohheit der Produktion zu vereinen weiß. Grandios bedient sich der Sänger seiner stimmlichen Fertigkeiten und lässt die Songs in Kopf- und Brustregister tonal gleichermaßen kraftvoll erstrahlen.
Mit "Amalia" verkörpert Nora Schulte eine Frauenfigur, die zwischen den beiden Männern und ihrer Rivalität steht, und beweist dabei ihr erstaunliches Verständnis für die figurale Emotionspalette, die sie in scheinbarer Mühelosigkeit in allen Farben zu bespielen vermag. Grandios jongliert die Schauspielerin mit dem Kontrast der starken Anziehung zum einen sowie der uneingeschränkten Ablehnung des anderen Bruders und bedient sich dabei so gekonnt des versierten spielerischen Handwerks, dass ihre Mimik zum offenen Buch wird, dem sich alle gefühlvollen Ausdrücke ablesen lassen und das so tiefe Einblicke in das Innenleben der um den Verlust ihres Geliebten trauernden Frau gewährt. Feinsinnig zeichnet Nora die tiefe Verbundenheit Amalias zu Karl und macht dabei das stetige Innehalten in den sehnsuchtsvollen Gedanken an die gemeinsamen Zeiten transparent. Zugleich präsentiert die Künstlerin wunderbar die innerliche Distanz zu Franz Moor, der sie als Trophäe im Kampf gegen seinen Bruder zu verstehen scheint. In der Kontrastierung der so gegensätzlichen Empfindungen gegenüber den beiden Brüdern erstrahlt die Figur, die sich in ihrer Charakterlichkeit aus der Rolle eines reinen Spielballs zu befreien weiß, in einer Melange aus Willensstärke und gleichzeitiger Zerbrechlichkeit. Diese Verbindung spiegelt sich auch in Noras glänzendem Sopran wider, der zarte, sich über den Zuschauerraum der Stiftsruine ergießende Töne mit kraftvollen Akzenten zu veredeln weiß. Glockenhell intoniert Nora die ihr zugedachten musikalischen Parts und lässt dabei insbesondere die kurzen Momente des Duetts mit Bühnenpartner Yascha Finn Nolting in empfindsamer Harmonie erstrahlen.
Christof Messner begeistert in der Rolle des "Spiegelberg" mit seinen exzellenten spielerischen Fähigkeiten und einer klugen Figureninterpretation, die schon frühzeitig die künstlerische Genialität des Darstellers zu enthüllen weiß. Ausdrucksstark mimt er einen innerlich getriebenen Mann, der in seinen drängenden Impulsen den Anstoß zur Gründung der räuberischen Bande liefert und der Rolle Karls als Anführer mit purem Neid und alles zerfressender Eifersucht begegnet. Spiegelberg fühlt sich von der Begeisterung der anderen Bandenmitglieder für den anfänglich wohl erzogenen Sohn aus gutem Hause, der doch so gar nicht in die Rolle eines impulsiven Revolutionärs passen will, hintergangen, und kann den scheinbaren Verrat an seiner Person nicht verzeihen. Brillant arbeitet Christof Messner kleine Details in Gestik und vor allem Mimik heraus, die schon zu Beginn des Stücks auf die Geringschätzung des neuen Oberhauptes schließen lassen und spielt mit scheinbarer Leichtigkeit mit dem Kontrast der nach außen sichtbar werdenden Handlungen sowie der im Inneren verborgenen Gefühle, die von einer stetig wachsenden Wut und dem Verlangen nach dem in seinen Augen rechtmäßigen Platz an der Spitze dominiert werden. Umrahmt wird die Darstellung von Christofs unglaublicher Ausstrahlung und Bühnenpräsenz, die das Publikum magnetisch anziehen und es über den gesamten Abend hinweg an seinen Lippen kleben lassen. In aller Fulminanz einer charismatisch angereicherten Darbietung bleiben die Erinnerungen an diese rundum von Stärke konturierte Verkörperung in den Köpfen der Zuschauer verhaftet und rufen noch lange nach Vorstellungsende ein Gefühl des Staunens hervor.
(c) Bad Hersfelder Festspiele/S. Sennewald
In der Rolle des "Grafen von Moor" und Vater der beiden verfeindeten Brüder überzeugt Tom Zahner mit seiner ausdrucksstarken Darbietung auf ganzer Linie. Spielerisch kreiert der Künstler eine hoch authentische Version des gealterten Mannes, der bitteren Intrigen und Rachegelüsten zum Opfer fällt und in der Trauer um seinen verlorenen Sohn zu versinken droht. Dabei offenbart der Schauspieler die innere Zerrissenheit des Charakters zwischen dem Schmerz, der ihn aufgrund der vermeintlichen Taten seines Sohnes Karl ereilt, sowie der väterlichen Zuneigung und dem Wunsch, seinen Sohn endlich wieder in die Arme schließen zu können. Unter dem Einfluss seines jüngsten Sohnes Franz wankt der Vater immer wieder zwischen der Abkehr von Karl und diese aufgebaute Distanz konterkarierenden Schuldgefühlen, welche Tom Zahner mit großer Sensibilität für das Innenleben der Figur herauszustellen weiß.
Die Räuberbande rund um Anführer Karl Moor wird von unterschiedlichen Persönlichkeiten statuiert, die alle dank der spielerischen wie gesanglichen Erstklassigkeit der Künstler in einer beeindruckenden Plastizität erscheinen.
Markus Schneider begeistert mit seiner ausdrucksstarken Darstellung des jungen "Roller", der inmitten der Bandengesetze und der räuberischen Verbrüderung seine neue Heimat findet und revolutionäre Visionen entwickelt. In spielerischer Vortrefflichkeit mimt der Künstler einen jungen Mann, der seinem Bandenanführer, den er verehrt, ewige Treue schwört und bereit ist, sein Leben für die Grundsätze der Räuberbande zu opfern. Dabei stellt Markus eindrucksvoll seine künstlerische Wandelbarkeit unter Beweis und schenkt der Figur eine ganz individuelle Körperlichkeit, indem er dem Charakter in seiner spielerischen Hingabe eine eigenständige Physis verleiht. So entwickelt der Künstler auf der Bühne eine charakterstarke Persönlichkeit, die mutig durch das Leben zieht und in ihrem blinden Vertrauen eine Stütze für Karl darstellt, auf deren Einsatz und Loyalität sich das Räuberoberhaupt stets verlassen kann.
(c) Bad Hersfelder Festspiele/S. Sennewald
Tim Al-Windawe sticht in der Rolle des Bandenmitgliedes "Schweizer" hervor, einem pflichtbewussten Mann, der in seiner Hingabe für die Ziele der Gruppe zu einem treuen Begleiter Karls wird. In spielerischer Expression zeichnet der Darsteller eine rundum überzeugende figurale Interpretation und kreiert einen Charakter, der sich durchweg seinem Schwur gegenüber dem Hauptmann und der Gruppe verpflichtet fühlt. Dabei erscheint insbesondere die starke Bühnenpräsenz des Künstlers äußerst bemerkenswert, dank derer er das Publikum an seine herausragende Darbietung zu fesseln und die auf der Bühne kolorierte Räuberbande mit seiner individuellen künstlerischen Qualität zu bereichern vermag.
Weiterhin vollbringt Wolfgang Türks gleich im Rahmen einer Doppelrolle eine durchweg phänomenale künstlerische Leistung, die er sowohl im Kontext seines Engagements als "Hermann" sowie als Mitglied der Räuberbande in schauspielerischer Präzision auszukleiden vermag. Dem Darsteller gelingt es meisterhaft, mit der Figur des Hermann eine Persönlichkeit zu zeichnen, die sich vor dem Hintergrund von verletztem Stolz und mit Ausblick auf persönliche Vorteile allzu schnell auf einem zweifelhaften Handel einlässt, der in einen Widerstreit mit seiner moralischen Ausrichtung eintritt. Großartig spürt der Darsteller der inneren Zerrissenheit des Mannes zwischen Eigennutz und Empathie nach und umzeichnet jenen Konflikt, der Hermann zunehmend zu verschlingen droht, mit künstlerischer Souveränität und spielerischer Freude.
Komplettiert wird die Räuberbande von Pedro Reichert, Andreas Schneider, Andrew Chadwick, Nico Hartwig, Wayne Götz sowie Sven Gey, der im Laufe der Geschichte als "Kosinsky" hinzustößt. Ebenso wie bei Patrick Lammer, der als musikalischer Leiter am Keyboard und zugleich in der Rolle des "Hausknechts" des Grafen wahre Wunder zu vollbringen scheint, und bei Joern Hinkel, der hier mit sonorer Stimme und beeindruckender Präsenz auch schauspielerisch zum Auftritt kommt, zeichnet sich bei allen Ensemblemitgliedern der Ausdruck purer Bühnenfreude und leidenschaftlichen Spielwitzes ab. Ebenso wie die Räuberbande selbst wächst das Ensemble auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu einem in der Individualität aller erstarkenden Kollektiv zusammen, das spielerisch wie gesanglich zur Höchstform aufläuft. Jeder einzelne Künstler taucht hier mit sichtlicher Hingabe für drei Stunden in eine Welt zwischen Liebe, Lüge und Verrat ein und kreiert ein inszenatorisches Meisterwerk, das der Kunst vieler exzellenter theatraler Handwerker bedarf.
(c) Bad Hersfelder Festspiele/S. Sennewald
Die Musik der "Toten Hosen" wird im Kontext der theatralen Narration zu einem akustischen Ausdruck eines Lebensgefühls, einer Vision von einer anderen Welt, und malt tonal den Charakter einer Geschichte, die von dem Kampf um die Entlohnung der Vergangenheit sowie das Recht auf die Zukunft erzählt. Legt die reine Benennung eines Vorhabens in Bezug auf die Verschränkung von klassischem Drama und rockig-punkiger Musik möglicherweise noch ein Gefühl zwischen purer Verwunderung und nagender Skepsis nahe - wer würde schließlich auf die Idee kommen, einen Stoff, den zahlreiche Menschen wohl eher in die Schublade verstaubter Texte aus dem Deutschunterricht geschoben haben, mit rebellischem Punk zu paaren - so wirft die Inszenierung in Bad Hersfeld schnell die Frage auf, wie man überhaupt auch nur einen Moment an der Verschränkung der geschichtlichen und musikalischen Dimension zweifeln konnte. Die Produktion ist ebenso kompromisslos und drängend wie die Lieder der Toten Hosen selbst. In dem musikalischen Aufruhr der Songs, die von der perfekt in die Räubertruppe integrierten Band rund um den musikalischen Leiter Patrick Lammer mit einer ordentlichen Portion Energie und Klangwucht intoniert werden, gewinnen die epochalen Züge des Sturm und Drangs einmal mehr an Kontur und präsentieren eine Symbiose, im Rahmen derer sich Musik und Geschichte gegenseitig an Kraft schenken.
(c) Bad Hersfelder Festspiele/S. Sennewald
Die Produktion erzählt die Geschichte des rivalisierenden Geschwisterpaares auf eine sehr intensive Weise, sodass man als Zuschauer das Gefühl hat, über drei Stunden hinweg in eine Szenerie gesogen zu werden, in der Intriganz und Kampfesmut sich zu einer explosiven Mischung vereinen. Das Publikum wird hautnah mit dem für den Sturm und Drang so typischen Streben nach der Befreiung des Individuums aus den Fesseln der gesellschaftlichen Zwänge konfrontiert und begleitet zwei Erzfeinde, lediglich verbunden durch die Blutsverwandtschaft, die Momente der Auflehnung in verschiedenen Facetten zelebrieren. Bemerkenswert erscheint mit Blick auf die narrative Dimension hierbei die Koexistenz zweier Schicksale, die nebeneinander existieren und ihre Intensität doch zugleich maßgeblich aus der jeweils anderen Szenerie schöpfen. Die Handlungsstränge und Lebenswege von Franz und Karl verlaufen parallel zueinander und sind dabei in ihrer szenischen Trennung doch inhaltlich zu jedem Zeitpunkt stark miteinander verwoben. Nicht nur in puncto Aufbruch und Befreiung spiegelt die Produktion einen Stellvertreter des Sturm und Drangs dar, es lassen sich zahlreiche Merkmale finden, die die epochale Zuordnung des Werks ermöglichen. So kommt beispielsweise dem Wald in der Geschichte eine zentrale Bedeutungsebene zu. Die Natur wird in Werken der damaligen Zeit oftmals als Zufluchtsort und Quelle der Inspiration etikettiert - eine Bedeutungszuschreibung, die sich auch in den "Räubern" nicht leugnen lässt. Der Wald schenkt Karl in seiner Schattenhaftigkeit das Versteck der Undurchschaubarkeit und wird damit zur Heimat für den räuberischen Ausbruchsversuch und die damit verknüpfte identitäre Neugeburt. Auch die Betonung der subjektiven Empfindungen spricht dem Werk einen klassischen Erzählduktus des Sturm und Drangs zu, wie das Publikum ihn hier in der Stiftsruine in einer besonderen Form des Klimax präsentiert bekommt. Die Kraft der Gefühle wird im Rahmen der Inszenierung nicht nur auf der reinen Sprechebene entfaltet - hier finden wir eine besondere sprachliche Betonung in der Häufung von exclamationes, die die figurale Wehklage verstärken - nein, vielmehr erhält die Emotionalität hier einen doppelten Boden, indem sich gesprochener und gesungener Text verschränken und in ihrer Kreuzung von Altertümlichkeit und Modernität ein neues theatrales Sprachkonzept schaffen, das fließend ineinander überläuft und dessen Grenzen in der organisch anmutenden Verwebung beider Dimensionen verschwimmen.
(c) Bad Hersfelder Festspiele/S. Sennewald
Optisch wird die Handlung durch das Bühnenbild von Jens Kilian gerahmt, das eher schlicht gestaltet die einzigartige Atmosphäre der hessischen Spielstätte als Kern der Visualität wirken lässt. Das Bühnenbild statuiert sich in seinen Grundzügen lediglich in einigen fahrbahren Untersätzen, die in variabler Weise zusammengesetzt werden können, um unterschiedliche Schauplätze anzudeuten. Was auf den ersten Blick sehr zurückgenommen wirkt, entfaltet in Kombination mit der natürlichen Kulisse des altehrwürdigen Gemäuers eine starke visuelle Ausdruckskraft. Insbesondere in der Veredelung mittels kleiner Geniestreiche, wie dem pointierten Einsatz von Feuerelementen oder auch der simplen wie grandiosen Idee, eine Halle voller Portraits einzig mittels goldener Bilderrahmen als Umrahmung der Künstler auf der Bühne zu zeichnen, gewinnt das Gesamtbild an Imposanz und transportiert mühelos die starke Atmosphärik des Stücks in einer visuellen Sprache, die dem Opus in aller Intensität gerecht wird.
Auch das bis ins Detail durchdachte Kostümbild von Heike Meixner knüpft an die starke Optik der Produktion an und entführt den Theaterbesucher in vergangene Zeiten sowie unbekannte Settings. Bemerkenswert gestaltet sich in dieser Hinsicht die symbolische Metaebene, die der visuellen Linie eingeschrieben ist. Geschickt unterstreicht das Kostümbild den Kontrast zweier Sphären, die im Rahmen der Geschichte aufeinanderprallen, mit entsprechenden kostümtechnischen Zeichnungen und visualisiert dabei die Antithetik des rauen, ungezügelten Räuberlebens in der Wildnis sowie des prunkvollen, vermeintlich geordneten höfischen Lebens ausgezeichnet. Besondere Wirkkraft entwickelt die Optik in diesem Zusammenhang mit Blick auf Karls Figur, die
ihre Wandlung auf Ebene des Kostüms visuell vollzieht, indem die anfänglich adrett anmutende Gestalt im Laufe der Handlung immer mehr bröckelt und langsam aber sicher durch ein Äußeres abgelöst wird, das die Abkehr von den adligen Wurzeln und die zunehmende Verrohung abbildet. Die Kombination visagistischer Mittel, die für entgegengesetzte Dimensionen in Karls Persönlichkeitsmosaik stehen - so, wie es beispielsweise der lange Zeit bewahrte kunstvolle Zopf und die verdreckte, zerrissene Kleidung tun - entpuppt sich als visueller Geniestreich, der die Dualität aller charakterlichen Nuancen gekonnt in Szene setzt.
Mit dieser besonderen Umsetzung des historischen Stoffes ist den kreativen Köpfen in Bad Hersfeld wieder einmal ein echter Geniestreich gelungen, der abermals deutlich macht, durch welche Wucht an künstlerischer Intelligenz sowie an inszenatorischem Mut sich die Festspiele in der wundervollen Stiftsruine auszeichnen. Der Plan, das Grundgefühl des Werkes aus der Feder von Schiller auf visueller wie akustischer Ebene originalgetreu erzählt und zugleich doch so neuartig umzeichnet zur Entfaltung zu bringen, geht vollends auf und bietet dem Publikum ein Theatererlebnis, das frei nach dem in einem der Songs verarbeiteten Motto "Alles ist eins" in der Melange eines stürmischen, ungezähmten Lebensgefühls sowie einer kunstvollen Ästhetik an neuer Erzählkraft gewinnt und die Emotionalität der Geschichte in der Vielfalt farblicher Nuancen erstrahlen lässt.
Einer Druckwelle gleich fegt das Stück über den Zuschauerraum hinweg und verschont dabei in seiner schieren Gewalt euphorischer Energieschauer keinen Theaterbesucher. Die Produktion strotzt vor Intensität, die sich im Gemäuer der Stiftsruine, welches beinahe schon mit einer eigenen Aura versehen scheint, in geballter Kraft entlädt und die Grenzen des Theaters im Angesicht figuraler Expression verschiebt. Bühne und Zuschauerraum verschwimmen durch das Glas kraftvoller Narration betrachtet zu einer Einheit des gemeinsamen Fühlens. Die von Emotionen erfüllten Augen der Zuschauer werden zum Spiegel dessen, was die Figuren dort auf der Bühne durchleben, was sich in ihrem Inneren verbirgt und was sie an die Grenzen von Verstand und Gefühl führt.
Es gelingt nur schwerlich, die ungeheure Kraft der von Gil Mehmert inszenierten Produktion in Worte zu fassen, denn für dieses überwältigende Gefühl, das die Darbietung in all ihrer Energie in die Zuschauerreihen entsendet und dort im Angesicht der puren Intensität für Momente der kollektiven Gänsehaut sorgt, gibt es keine treffende Beschreibung. Die Inszenierung gestaltet sich energisch wie in aller Eigenständigkeit rigoros und konfrontiert den Theaterbesucher mit nagenden Zweifeln und grausamen Gewissheiten. Hier wird nicht die typische Gegenüberstellung von Protagonist und Antagonist eröffnet, statt der heroischen Konnotation einer Hauptfigur zeichnet das Stück Charaktere, die im Angesicht menschlicher Abgründe zu extremen Taten bereit sind. Der Konstitution einer in jeglicher Hinsicht kraftvollen Inszenierung ist es zu verdanken, dass der Theaterbesucher nicht reiner Betrachter des Geschehens bleibt, sondern über drei Stunden hinweg geradewegs in ein gewaltiges Bühnenspektakel katapultiert wird, angesichts dessen expressiver Stärke das Herz wortwörtlich schneller schlägt.
(c) Bad Hersfelder Festspiele/S. Sennewald
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