Wenn ein Musicalfan nach London reist...

Wenn ein Musicalfan nach London reist, dann natürlich vor allem auch, um möglichst viele Shows zu besuchen. So war (und ist) es in der Regel auch bei mir. Mindestens ein London-Besuch pro Jahr steht fest in meinem Terminkalender, und da wird schon Monate im Voraus geplant, wie man möglichst viele Musicalbesuche in ein paar Tage gezwängt bekommt.

Dieses Jahr sollte alles ein bisschen anders werden… so war zumindest der Plan. Ich hatte mir gewünscht, endlich einmal West End Live, das große zweitägige Musical-Festival auf dem Trafalgar Square mitzuerleben. Und glücklicherweise fand dieses genau an dem Wochenende meines Geburtstages statt. Dafür, so versprach ich vollmundig meiner Reisebegleitung, müssten wir natürlich keine weitere Show besuchen, wir hätten ja quasi alles in einem. Stattdessen wollten wir endlich mal London außerhalb der Touri-Hotspots erkunden.

Nun ja, wie gesagt, das war der Plan.  Die Realität sah am Ende anders aus und der diesjährige Trip wurde definitiv zu meinem vollgepacktesten, aber auch erlebnisreichsten London-Trip bisher.

Los ging es am Donnerstag. Anreisetag. Unwetter – erst über London, dann über Berlin. Irgendwie erwischte unser Pilot den richtigen Time-Slot und wir landeten am Nachmittag in London, wenn auch mit Verspätung. Und statt den Trip ruhig anzugehen, stand am Abend schon das erste Highlight an: „Hamlet“ mit „Sherlocks“ Moriarty-Darsteller Andrew Scott in der Titelrolle. Um nichts in der Welt hätte ich das verpassen mögen. Zugegeben, vom Text kam lang nicht alles bei mir an, aber das Stück ist ja auch hinreichend bekannt. Und so genoss ich einfach die Schauspielkunst der Cast und die tolle, unkonventionelle Inszenierung. Trotz einer Länge von dreieinhalb Stunden, eines stickigen Theaters, engen Sitzen und völliger Übermüdung ein grandioses Erlebnis mit einem phantastischen Hauptdarsteller. Von dem es, quasi als Zugabe, nach dem Stück auch noch ein Autogramm und ein Foto an der Stage Door gab. Day one made :-)


Tag zwei, Freitag. Für diesen Abend stand das nächste Highlight auf dem Programm: Ein Konzert der „Together again“ open air Tour von und mit Alfie Boe und Michael Ball. Zwei absolute Stars der Musicalszene. Vor allem Alfie Boe wollte ich live erleben, seit ich vor Jahren die DVD mit der konzertanten Aufführung zu 25 Jahren Les Misérables gesehen hatte. Wenn er „Bring him home“ singt, brauche ich ein Taschentuch.  Und was soll ich sagen: Auch dieses Konzert war (natürlich) großartig. Schon allein der Ort, der Innenhof des Hampton Court Palace, war ein Erlebnis für sich. Etwa 1.000 Zuschauer waren sofort da, sprangen von ihren Sitzen, klatschten, sangen mit. Diese unmittelbare Begeisterung hat mich (positiv) überrascht, die hatte ich so nicht erwartet und meine Erfahrung von ähnlichen Konzerten deutscher Musicalgrößen war eine andere. Da braucht das Publikum meist eine Weile, bis es auftaut. Hier dagegen sangen vom Mädchen im Teenageralter bis zum Herren im fortgeschrittenen Rentenalter alle mit. Ball & Boe hatten das Publikum von Anfang an fest im Griff. Sie scherzten miteinander, reagierten auf die Zuschauer und sangen in einer Qualität, die ich (leider muss ich das so sagen) in vergleichbaren deutschen Shows noch nie gehört habe, unterstützt von Background-Sängerinnen und großem Orchester. Und ja, ich brauchte das Taschentuch. Mehrfach. Day two made :-)


Tag 3, Samstag. Endlich West End live-Tag. Natürlich wollte ich rauf aufs Festivalgelände, die Shows hautnah und live erleben. Aber angesichts der langen Schlangen am Einlass auf den eh schon vollen Trafalgar Square hielt es mich irgendwie davon ab. Also bezogen wir Position auf der Wiese vor der National Gallery mit Blick auf die großen Leinwände. Und da außer uns auch viele andere diese Idee hatten, war es am Ende wie ein kleines Picknick und das Festivalgefühl stellte sich zumindest ein bisschen ein. 
Da dies mein Geburtstag war, gab es aber auch noch ein bisschen Nicht-Musical-Programm. Und da war ja dann auch noch der Sonntag. Day three made :-)


Tag 4, Sonntag. Noch einmal West End live. Der Sonntag ist meist deutlich weniger besucht und so kamen wir heute auch problemlos aufs Gelände und konnten es so richtig genießen. Ben Forster, Rachel Tucker, John Owen-Jones (um nur einige zu nennen) sangen auf der Bühne, sogar Ricky Wilson von den Kaiserchiefs schaute, frisch vom Glastonbury-Festival zurückgekehrt, auf einen Song vorbei. 
Und überall um mich herum Menschen, die Musical genauso lieben wie ich, es war eine elektrisierende Atmosphäre. Zum Abschluss sangen dann Künstler und Zuschauer zusammen „That’s what friends are for“ und fühlten sich sehr verbunden.
Meine (heimlichen) Helden der Bühne waren im Übrigen die Gebärdensprachdolmetscher, die jeden (!) Song und jede Konversation übersetzten. Und nicht nur das: Sie machten aus der reinen Übersetzung eine eigene Show, sangen alle Texte mit, tanzten und interagierten mit Publikum und Künstlern. Einfach toll! Day four made :-)


Tag 5, Montag, der letzte Tag vor dem Heimflug. Und natürlich gab es auch an diesem Tag noch ein Musical-Highlight, nämlich ein „Tribute to Sondheim“ in Zedel’s Brasserie. Das war nun wieder ein ganz anderes Format, als die bisher erlebten. Ein quasi Ein-Mann-Konzert von etwa einer Stunde in einer Art Cabaret-Keller mit etwa 30-40 Zuschauern. Aber auch diese Show hatte definitiv ihren ganz eigenen Charme genauso wie der Ort selbst. 
Zugegebenermaßen bin ich nur in die Show gegangen, um endlich einmal Kieran Brown live zu sehen und zu treffen. Kieran ist Musical-Sänger, war bis vor einem Jahr Swing und first cover vom Phantom der Oper und wir sind schon seit einiger Zeit in den sozialen Medien „verbandelt“. Ein persönliches Treffen hatten wir jedoch irgendwie nie hinbekommen. Beim heutigen Konzert war er Support-Act und so konnte ich ihn endlich live singen hören und wir hatten nach der Show auch ein wenig Zeit für ein persönliches Gespräch. Day five made :-)

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Große Emotionen im Sherwood Forest - Mit Robin Hood kommt eine neue Zeit des Musiktheaters

Wenn die Sehnsucht tanzen geht - Schaurig-schöne Ästhetik und düstere Fulminanz in Hamburgs Gruft

Theater kann die Welt verändern - "Der Club der toten Dichter", ein eindringliches Meisterwerk, das die Sprache des Herzens spricht