Modern, mutig und mitreißend - "Hamilton - das Musical", ein Schuss, der ins Schwarze trifft

Wie ist dein Name, Mann? Alexander Hamilton. Man nennt mich Alexander Hamilton. Hab' mir Millionen Dinge vorgenommen - doch wartet's ab, wartet's ab. 
Dieser Name einer der Gründungsväter der Vereinigten Staaten steht schon längst nicht mehr nur in verstaubten Geschichtsbüchern. Spätestens seit der Uraufführung des Musicals "Hamilton" im Jahre 2015 ist der Name in Amerika bei Jung und Alt in aller Munde und auch in Europa fangen bei der Erwähnung dieses Namens die Augen so mancher Musicalliebhaber an zu strahlen. Seit knapp acht Jahren sorgt die Show am Broadway für Furore und begeistert allabendlich hunderte Theaterbesucher. Die Produktion konnte elf Tony Awards sowie den Pulitzer-Preis für sich sichern und gilt damit als einer der größten Erfolge der Musicalgeschichte. Nun ist das vielfach ausgezeichnete und in Amerika und Großbritannien bereits seit Jahren hoch gehandelte Stück auch in der deutschen Musicalmetropole Hamburg eingezogen. An der Fassade des Stage Operettenhauses prangt seit Herbst 2022 in weißen Lettern der Name, der die internationale Musicalwelt in Atem hält: Hamilton. Doch was verbirgt sich eigentlich hinter diesem Theaterhype rund um einen der Gründungsväter sowie ersten Finanzminister der Vereinigten Staaten, dessen Biografie uns hier in Deutschland vor dem Musicaldurchbruch Hamiltons sicherlich nicht unbedingt geläufig war? Diese Frage möchte ich euch im Folgenden beantworten, doch es sei an dieser Stelle schon einmal vorgewarnt: Das, was aktuell auf der Bühne des Hamburger Operettenhaus zu erleben ist, lässt sich weder in eine Schublade stecken, noch mit dem bislang Dagewesenen vergleichen. Bereits während meines Showbesuchs war mir klar, dieses Gesamtkunstwerk lässt sich nicht in Worten beschreiben, und doch möchte ich genau das im folgenden Text versuchen und euch dazu einladen, gemeinsam mit mir einen Blick auf das bewegte Leben eines Mannes zu werfen, der stets nach dem Höchsten gestrebt, sich des Öfteren in seinen Visionen und dem Drang nach Veränderung verlaufen und schließlich zugleich den höchsten Flug sowie den tiefsten Fall erlebt hat.

Das Musical widmet sich der Geschichte eines jungen Mannes, dessen Herz voller großer Träume und Ideen steckt. Als uneheliches Kind auf einer karibischen Insel geboren, wächst Alexander ohne seine Eltern auf. Bereits seine Kindheit ist von schweren Schicksalsschlägen geprägt und der Junge sieht sich schon in frühen Jahren mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, die auf seinem Weg nach Amerika auf ihn warten. Dort angekommen begegnet der junge Mann in seinem Alltag zahlreichen Ungerechtigkeiten, Missständen, der Sklaverei sowie Unterdrückung, die in ihm den Wunsch nach einem Kampf für Freiheit und Gleichberechtigung wecken. So wird der junge Alexander zu einer bedeutenden Galionsfigur im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, den er an der Seite von George Washington bestreitet, und der ihm endlich die Möglichkeit gibt, für seine Werte und Visionen zu kämpfen. Doch auch der gewonnene Krieg kann Hamiltons Durst nach Veränderung nicht befriedigen. Alexander wird Jurist, steigt immer tiefer in die Politik ein und übernimmt schließlich den Posten des ersten amerikanischen Finanzministers. Sein Blick ist stets nach vorn gerichtet und seine Gedanken kreisen stetig um politische Reform, neue Finanzsysteme und die Verteidigung der von ihm maßgeblich mitbestimmten Verfassung der Vereinigten Staaten. Doch das revolutionäre Streben, das schon bald zur Obsession wird, hat seinen Preis und so muss Hamilton nicht nur immer mehr politischen Gegnern gegenübertreten, auch die Beziehung zu seiner Frau Eliza beginnt zu bröckeln. Zunehmend gerät Alexander Hamilton in einen inneren Konflikt und er muss sich fragen: Was ist er bereit, für seine Karriere zu investieren und wie viele Menschen muss er verletzen, hintergehen und von sich stoßen, um seinen großen Kampf für die neuen Werte eines gesamten Landes siegreich auszufechten? Was mit den scheinbar unbedeutenden Wunschvorstellungen eines kleinen Mannes beginnt, endet schließlich in einem großen Gefecht der Emotionen, das seine Opfer fordert...

Rasant wird der Zuschauer durch die bewegte Lebensgeschichte Alexander Hamiltons geführt und von einer Szene in die nächste geworfen. Hier wird ein Erzähltempo vorgelegt, mit dem es kaum eine andere Bühnenproduktion aufnehmen kann. Der inhaltlich verarbeitete Stoff würde wahrscheinlich ausreichen, um drei Musicals zu füllen. Umso mehr ist der Zuschauer hier gefordert, seine volle Konzentration auf das Bühnengeschehen zu richten und den temporeichen Szenenwechseln höchst aufmerksam zu folgen. Doch die Gefahr, während der Geschichte gedanklich abzuschweifen, besteht bei dieser Show nun wirklich nicht, denn das Publikum klebt förmlich an den Lippen der Künstler. Augen und Ohren, alles ist hier auf die Menschen ausgerichtet, die auf den Brettern, die die Welt bedeuten, über sich hinauswachsen und absolute Meisterleistungen (anders kann man es in diesem Fall wohl nicht bezeichnen) vollbringen. Die Cast ist hervorragend aufeinander eingespielt und tritt hier als feste Einheit auf. In puncto Casting und Besetzung der einzelnen Rollen wurde bei der deutschsprachigen Inszenierung viel Fachverstand und Fingerspitzengefühl bewiesen. Jedes einzelne Castmitglied bekommt hier den Raum, auf der Bühne zu glänzen und seine individuellen Farben in die Show einzuweben.

Benét Monteiro sieht sich mit der großen Aufgabe konfrontiert, der Figur des "Alexander Hamilton" Leben einzuhauchen und meistert diese Herausforderung mit Bravour. Seiner schauspielerischen Raffinesse ist es zu verdanken, dass der Zuschauer mit einer sehr authentisch verkörperten, vielschichtigen Figur voller Ecken und Kanten Bekanntschaft macht. Mit sichtlicher Spielfreude arbeitet der Darsteller die unterschiedlichen Facetten des Charakters aus, die von jugendlicher Naivität, über Egozentrik bis hin zu tiefer Vaterliebe und Fürsorge reichen. Sehr überzeugend spannt der Künstler schauspielerisch einen Bogen vom jungen, unbedarften Träumer hin zum verbissenen Politiker, der mit aller Macht für seine Ideen kämpft. Benét gelingt es wunderbar, eine glaubwürdige Entwicklung des Charakters auf die Bühne zu bringen und eine Figur zu erschaffen, deren Handeln der Zuschauer stetig aufs Neue hinterfragen muss. "Alexander Hamilton" ist mit Sicherheit kein Prototyp für die klassische Heldenfigur. Die Rolle bewegt sich immer wieder in moralischen Graubereichen und vereint so unterschiedliche Charakterzüge, dass man der Figur schlussendlich doch sehr ambivalent gegenübersteht. Die äußerst gelungene Darbietung des gebürtigen Brasilianers sorgt dafür, dass man sich als Theaterbesucher in einem ständigen inneren Dialog mit dem Charakter befindet - man sympatisiert mit der Figur, man leidet mit der Figur, man fühlt sich von ihren Handlungen abgestoßen, man fleht sie innerlich an, gefällte Entscheidungen zu überdenken und doch bleibt ein Fazit in jedem Falle bestehen: Man kann eine wie auch immer geartete tiefe emotionale Verbindung zu Alexander aufbauen - und das ist dem großen künstlerischen Talent des Darstellers zuzuschreiben. Man glaubt ihm jedes einzelne Wort und kann den Blick einfach nicht von seiner Bühnenpräsenz abwenden, denn es macht die größte Freude, den Künstler in dieser vielschichtigen Rolle strahlen zu sehen. 
Allerdings glänzt Benét nicht nur  schauspielerisch über die gesamte Vorstellung hinweg, auch stimmlich beweist er in unterschiedlichen musikalischen Parts, warum er die ideale Besetzung für diese fordernde Rolle ist. 

Ihm gegenüber steht Gino Emnes in der Rolle des Freundes, Vertrauten und zugleich stärksten Kontrahenten Hamiltons "Aaron Burr". Ebenso wie für die Besetzung der Titelfigur konnte auch für diese tragende Rolle ein großer Künstler gewonnen werden, der dank seiner herausragenden stimmlichen Qualitäten sowie seines schauspielerischen Könnens einen ebenbürtigen Spielpartner für Benét Monteiro abgibt. Auch die Figur des Aaron Burr verlangt dem Darsteller in ihrer Komplexität so einiges ab, doch gerade dieser Facettenreichtum gibt dem Künstler die Möglichkeit, über drei Stunden hinweg zu begeistern und mit einer unvergleichlichen Präzision durch die Geschichte zu führen. Die Figur wird hier zu einer Art Kommentator des Geschehens, der den Zuschauer durch die Story führt und die einzelnen Stationen der Reise geschickt miteinander verwebt. Aufgrund dieser besonderen Funktion ist die Figur nahezu non stop auf der Bühne. Diese ausgedehnte Bühnenzeit eröffnet Gino den Raum, die große Palette seiner künstlerischen Farben transparent werden zu lassen. Mit einer bewundernswerten Präsenz und Ausstrahlung mimt er den Charakter des Aaron Burr, dessen Weg immer wieder den Alexander Hamiltons kreuzt, bis es schließlich zum großen Duell zwischen den Beiden kommt - in ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten und ihrem differenten Auftreten eint die Beiden doch eines: Ihr Streben nach Macht und ihr Kampf für ihre Selbstverwirklichung. Großartig entwickelt Gino einen innerlich zerrissenen Charakter und ermöglicht dem Publikum einen Einblick in das Seelenleben des Mannes, der scheinbar dazu verdammt ist, immer wieder im Schatten Alexander Hamiltons unterzugehen. Gekrönt wird die schauspielerische Leistung von einer stimmgewaltigen Darbietung, die jegliche Passage zu einem wahren Ohrenschmaus werden lässt. Für den Theaterbesucher ist kaum zu übersehen, dass der Künstler für die Dauer der Vorstellung alle Emotionen in seine Darbietung legt und auf den Brettern, die die Welt bedeuten, für seine Rolle lebt.


Charles Simmons verkörpert die Rolle des "George Washington", Oberbefehlshaber und späterer Präsident, ausdrucksstark und mit äußerst expressiver Mimik. Ihm gelingt es wunderbar, der Figur eine starke Körperlichkeit zu verleihen und sie dabei mit der notwendigen selbstbewussten, autoritären Ausstrahlung zu versehen. Als kerniger Oberbefehlshaber zieht Charles alle Blicke auf sich und verleiht dem Charakter die notwendige Größe. Trotz des vordergründig sehr bestimmt wirkenden Auftretens gelingt es dem Künstler zugleich auch immer wieder, die hinter der Fassade verborgenen Unsicherheiten und Schuldgefühle der Figur aufblitzen zu lassen, sodass der Zuschauer - abseits der strahlenden Außenwirkung Washingtons - auch einen Blick auf die von so manchem Sturm zerrüttete Innenwelt des Charakters erhaschen kann. Doch die größte Begeisterung vermag Charles sicherlich mit seiner durchdringenden, fantastisch ausgebildeten Stimme hervorzurufen, welche dem Publikum eine Gänsehaut nach der nächsten beschert. Seine Stimme steckt voller Tiefe und Seele und unterstreicht die Größe und Erhabenheit Washingtons auch auf musikalischer Ebene.

Zudem durfte ich Vic Anthony in eben jener Rolle erleben, der Erstbesetzung Charles Simmons in nichts nachsteht. Der gebürtige Brasilianer weiß mit einer sehr authentischen Darstellung Washingtons zu überzeugen, im Rahmen derer er ganz individuelle Schwerpunkte in seinem Spiel legt und im Vergleich zu Charles etwas andere Nuancen der Figur hervorkitzelt. Dabei legt Vic sehr viel Wärme in seine Interpretation des Charakters und erschafft mit scheinbarer Mühelosigkeit eine äußerst nahbare Figur mit Stärken und Schwächen, die im Laufe des Stücks eine fast väterliche Rolle übernimmt und sich zum engsten Vertrauten Hamiltons entwickelt. Es macht große Freude, dem Zusammenspiel beider Figur zusehen und die stetige Stärkung der Beziehung beider verfolgen zu dürfen. Vic durchlebt auf der Bühne authentisch alle Höhen und Tiefen der Figur und strahlt dabei als Künstler eine wunderbare Ruhe und Sympathie aus.

Rund um Alexander Hamilton spannt sich im ersten Akt der Show ein stürmisches Gespann voller jugendlichem Tatendrang, das sich mit Euphorie in den Kampf für neue Ideale und Wertordnungen stürzt. 
Daniel Dodd-Ellis begeistert in der Rolle des jungen "Marquis de Lafayette", der vor Energie sprüht und sich der mit Hamilton einkehrenden Aufbruchsstimmung vollkommen hingibt. Den zweiten Akt eröffnet der Künstler dann als "Thomas Jefferson" - eine Figur, die nach Amerika zurückkehrt und aufgrund der differenten Ansichten schnell mit Heißsporn Alexander aneinandergerät. Schwungvoll und mit stimmlicher Stärke führt Daniel den Zuschauer in den zweiten Akt ein und reißt das Publikum mit seiner pointierten, ausdrucksstarken Darstellung, die mit spielerischen Feinheiten in Mimik und Intonation gespickt ist, vom ersten Augenblick an mit.

Ebenfalls an Hamiltons Seite kämpft der junge "Hercules Mulligan", welcher von Künstler REDCHILD mit seiner großartigen Bühnenpräsenz phänomenal ausgefüllt wird. Er vermag es mittels großer Strahlkraft, die auch die letzten Reihen des Theatersaals erreicht, die Zuschauer für sich einzunehmen. Besonders gefesselt wird der Theaterbesucher jedoch von der einzigartigen Stimmfarbe des Rappers und Sängers, die in dieser Show grandios zur Geltung kommt und die Auftritte des Künstlers zu wahren musikalischen Höhepunkten erwachsen lässt. Nach der Pause verkörpert REDCHILD den Charakter des "James Madison", der als Vertrauter von Thomas Jefferson auftritt, und legt dabei die jugendliche Leichtigkeit aus dem ersten Akt vollkommen ab. Seine Darstellung des späteren Präsidenten Madison wirkt sehr selbstsicher und macht den Zuschauer mit einer gewieften, strategisch denkenden Figur bekannt.


Der Letzte im Bunde der kampfeslustigen Revolutionäre ist schließlich "John Laurens", der wahrscheinlich die engste Verbindung zu Alexander hat und sich von Hamilton sowie seinen idealistischen Ideen inspiriert fühlt. Darsteller Oliver Edward haucht der Figur mit spielerischer Leichtigkeit Leben ein. Er schenkt der Rolle eine ordentliche Portion Energie und geht scheinbar vollkommen in der Darstellung des feurigen Charakters auf, welcher nicht davor zurückschreckt, sein Leben für den ersehnten Umbruch in Amerika zu riskieren. Nach der Pause tritt Oliver in der Rolle von Alexanders Sohn "Philip Hamilton" auf, der im Laufe des zweiten Aktes zu einem stattlichen jungen Mann heranwächst. Oliver gelingt es meisterlich, die Entwicklung vom kindlichen, verspielten Jungen hin zum ernsten Erwachsenen, in dem ein ähnliches Feuer wie in seinem Vater brennt, transparent werden zu lassen. Mit viel Feingefühl taucht er in die Rolle des Sohnes ein, der stets nach der Anerkennung seines Vaters strebt und versucht, Alexander bereits in jungen Jahren nachzueifern. 

Sasha Di Capri stand an besagten Abenden als "King George" auf der Bühne und hat es geschafft, mit der wohl geringsten Bühnenzeit einen der nachhaltigsten Eindrücke beim Publikum zu hinterlassen. Würde man nach Vorstellungsende einmal durch die Reihen fragen, was die Zuschauer besonders begeistern konnte, so würde wohl in nahezu jeder Antwort der Verweis auf den skurrilen, exzentrischen König auftauchen. Sasha vollbringt mit seiner unglaublich ausdrucksstarken Darstellung, die sein Verständnis für pointierte Theaterkomik offenbart, eine wahre Meisterleistung. Der Künstler verleiht der Figur eine ganz eigene Körperlichkeit und arbeitet die Raffinesse dieser Rolle genial heraus. Mimik, Gestik, Intonation - Sasha nutzt auf allen Ebenen das Potenzial dieser Rolle aus und spielt gekonnt sowohl mit dem gesprochenen Wort als auch mit präzise gesetzten Pausen. Während seiner gesamten Auftritte sucht Sasha den Blickkontakt zum Publikum und fesselt den Zuschauer alleine mit seinem durchdringenden Blick an den Charakter des süffisant lächelnden King George. Seine Mimik und sein Kontakt zum Publikum sind so voller Stärke, dass man als Theaterbesucher das Gefühl hat, ganz persönlich von dem Künstler angesprochen und gemustert zu werden. 

Auch auf Seiten der weiblichen Figuren, die in dieser Produktion in erster Linie durch die Schuyler-Schwestern vertreten werden, konnte die Castingabteilung ein geschultes Auge beweisen und die idealen Besetzungen für die anspruchsvollen Tracks ausmachen. An der Spitze des Geschwistertrios steht "Angelica Schuyler", die bei meinen zwei Besuchen von Schauspiel- und Gesangstalent Chiara Fuhrmann verkörpert wurde. Die Künstlerin hat eine ganz tolle, positive Ausstrahlung auf der Bühne, die es dem Theaterbesucher leicht macht, sich ihrer Figur nah zu fühlen. Glaubwürdig erweckt Chiara die älteste der drei Schwestern zum Leben und schafft eine Figur, die sich innerlich zwischen ihrer Fürsorge und bedingungslosen Liebe zu ihren Schwestern sowie ihrer Anziehung zu Alexander Hamilton, Mann ihrer Schwester Eliza, zerrissen fühlt. Über die gesamte Vorstellung hinweg durchlebt die Künstlerin in der Rolle Angelicas eine Achterbahnfahrt der Gefühle, welche sie so gekonnt mit echten Emotionen anreichert, dass der Zuschauer mit ihr fühlt, liebt und leidet. Brillieren kann Chiara zudem mit extrem starken stimmlichen Auftritten, im Rahmen derer sie sowohl sanfte, wohlig-warme Klänge als auch einen herausragenden Belt anschlägt.

Ivy Quainoo haucht der Figur der "Eliza Hamilton" Leben ein und führt dem Publikum eine gestandene, emanzipierte Frau und fürsorgliche Mutter vor, die ihren Ehemann Hamilton immer wieder mit der Politik teilen muss und dabei des Öfteren den Kürzeren zieht. Obwohl Alexander ihr nur sehr selten seine Aufmerksamkeit und Zeit schenkt, ist Eliza stets für ihre Familie da und strahlt ganz viel Wärme und Zuneigung aus. Dank Ivys schauspielerischem Talent fühlt sich der Zuschauer schnell verbunden mit der jungen Frau und bewundert ihre sichtbare Stärke. Die Künstlerin kann mit ihrem offenkundigen Fingerspitzengefühl für die Kreation der tiefgründigen Figur sowie ihrer Hingabe für den Charakter und die im Laufe der Geschichte durchlebten emotionalen Höhepunkte überzeugen. Zudem besticht Ivy durch ihre einzigartige, zarte Stimme, die einen besonderen Wiedererkennungswert aufweist und Songs, wie "Brenn'" und "Hilflos", mit einer phänomenalen klanglichen Qualität anreichert. 

Komplettiert wird das Geschwisterdreieck durch die kleine Schwester "Peggy", die von Künstlerin Mae Ann Jorolan überaus charmant und mit der notwendigen Portion Selbstironie verkörpert wird. Während Mae Ann im Schwesterntrio des ersten Aktes zunächst eher eine kleinere Rolle übernimmt, kann sie dann im zweiten Akt in der Rolle der verführerischen Liebhaberin "Maria Reynolds", noch einmal mit starker Stimme glänzen und ihr großes Gesangstalent unter Beweis stellen. Mit ihrer beeindruckenden Präsenz und Expression umgarnt die Darstellerin in der Rolle der attraktiven und schmeichelnden Verführerin Alexander Hamilton und arbeitet die Weiblichkeit sowie Kernigkeit der Figur gekonnt aus.

Das gesamte Ensemble trägt die Show in ihrer künstlerischen Größe und wird der von der Inszenierung stets verlangten Präzision mehr als gerecht. Hier sitzen alle Schritte und Bewegungen bis ins Kleinste, sodass beeindruckende visuelle Eindrücke für den Zuschauer entstehen. "Hamilton" ist ein Musical, das von allen Ensemblemitgliedern definitiv viel Körperlichkeit und Konzentration fordert. Doch es ist nicht nur ein Erlebnis, all diesen talentierten Menschen über drei Stunden hinweg zuzusehen, auch die Klangkulisse vermag bei dieser Produktion zu begeistern. Selten baut eine Inszenierung eine solch gewaltige gesangliche Harmonie und Farbigkeit an einzigartigen Stimmen auf, die sich immer wieder zu einem prächtigen akustischen Bild verbinden.

Vielfalt und Komplexität werden bei dieser Produktion nicht nur in puncto Figurenentwicklung und Schauspiel ganz groß geschrieben, auch die musikalische Linie der Show strotzt nur so vor Facettenreichtum und Multidimensionalität. "Hamilton" bietet einen eindrucksvollen Stilmix, der die für dieses Musical als kleines Aushängeschild geltenden Richtungen des Rap und HipHop mit vereinzelten jazzigen Klängen sowie den pop-/musicaltypischen Balladen verknüpft. Ein so großes musikalisches Spektrum muss natürlich besonders fein ausgearbeitet werden, um als Gesamtkonstrukt funktionieren zu können, und das ist bei dieser Produktion ohne Frage herausragend gelungen. Die einzelnen musikalischen Farben laufen wie Fäden in der Show zusammen und werden zu einem großen Kunstwerk verwoben. Das Ohr hat hier definitiv gut zu tun, um der Komplexität der musikalischen Gestaltung gerecht werden und die klangvolle Genialität in ihrer Gesamtheit aufnehmen zu können. Die Musik ist rasant, abwechslungsreich und durchdringend. Bereits in den ersten Szenen hat man als Zuschauer ein ähnliches Gefühl wie auf einer Achterbahn, die Beats pressen einen in den Sitz und das Adrenalin steigt schlagartig an.

Neben der musikalischen Gestaltung gibt es eine weitere Ebene, die man definitiv nicht vernachlässigen sollte, wenn man über Hamburgs neue Musicalsensation spricht und das ist die Ebene der Sprache. Lange Zeit gab es in der Musicalszene Zweifel, ob "Hamilton" in einer deutschen Übersetzung funktionieren kann und nun muss man fraglos anerkennen: Das Experiment ist mehr als geglückt! Die Produktion weist aufgrund der besonderen Erzählweise des Raps eine unfassbare Textdichte auf. Umso herausfordernder erscheint die Aufgabe, die Fülle an Wörtern aus dem Englischen zu übersetzen und dabei das in diesem Stück so präsente Sprachspiel beizubehalten. Doch auch in deutscher Sprache können die Texte in ihrer Raffinesse ohne Frage beeindrucken. Besonders spannend gestaltet sich hierbei der Kontrast zwischen recht derben Ausdrücken, die sich teilweise stark an den Jargon im Rap/HipHop anlehnen, und einer sehr kunstvollen, poetischen Sprache, die mit prägenden Metaphern und anderen wunderbaren Bildlichkeiten arbeitet. In nahezu jedem Satz gibt es tolle sprachliche Details zu entdecken, die einen Wiederholungsbesuch im Stage Operettenhaus besonders attraktiv machen, denn beim ersten Mal ist diese hohe Textdichte sicherlich nicht in ihrer Gesamtheit zu durchdringen.

Das Bühnenbild ist auf den ersten Blick recht einfach und zugleich durchaus beeindruckend gehalten. Vor allem das ausgeklügelte Lichtdesign trägt dazu bei, der pragmatisch gestalteten Holzkulisse eine gewisse Imposanz zu entlocken. Die Tatsache, dass die Bühne auf zwei Ebenen bespielt wird, ermöglicht das Einbinden zahlreicher großer Ensembleszenen, in denen der Theaterbesucher mit einer gewaltigen Bild- und Klangkulisse konfrontiert wird. Auch eine Drehbühne findet hier ihren Einsatz und kann stimmig in das visuelle Bild eingebunden werden, um noch mehr Möglichkeiten für Bewegungsabläufe und ausgefeilte Choreografien auf der Bühne zu eröffnen.

Das Musical nimmt den Zuschauer mit auf eine atemberaubende Reise in die Vergangenheit und macht das Publikum mit einem der Gründerväter der Vereinigten Staaten bekannt, dessen Lebensgeschichte hier modern und temporeich erzählt wird. Nun lässt sich sicher trefflich darüber streiten, inwieweit die historische Figur des Alexander Hamilton für das deutsche Publikum von Bedeutung ist, doch die Produktion im Hamburger Operettenhaus lässt alle etwaigen Zweifel hinsichtlich des verarbeiteten Stoffes schnell in Rauch aufgehen. Das Musical schafft so viel mehr als die biographische Nacherzählung einer amerikanischen Lebensgeschichte. Erzählt wird eine Geschichte über Freundschaft, Liebe, Akzeptanz, Vertrauen und Verrat, über den Mut, für seine Werte einzustehen und über den Willen, für das Ideal einer besseren Welt zu kämpfen. Die hier präsentierte Geschichte eignet sich nicht nur aufgrund der Flut an Ereignissen hervorragend für die Bühnenumsetzung, nein, den besonderen Schliff erhält die Geschichte durch ihre einzigartigen Charaktere, die allesamt Stärken und Schwächen in sich tragen und in ihrer Imperfektion eine hohe Nahbarkeit sowie Menschlichkeit aufweisen. Der Zuschauer ist ständig gefordert, das Verhalten der einzelnen Akteure zu reflektieren und die Beweggründe zu hinterfragen. Die Figuren sind nicht einfach in schwarz oder weiß gehalten, sie alle bewegen sich mehr oder weniger in Graubereichen und machen es dem Theaterbesucher nicht immer leicht, eine Position zu den gezeigten Personen sowie ihrem Handeln zu beziehen. Wohl kaum eine andere Theaterinszenierung hat eine solche Anzahl an vielschichtigen Persönlichkeiten aufzuweisen, die den Darstellern in ihrem Facettenreichtum alles abverlangt. 

So, nun sind viele Worte gefallen und doch kann man der Größe dieses Musicals wohl textlich nicht gerecht werden. Die deutsche Inszenierung glänzt in ihrer Komplexität und Präzision und lädt den Zuschauer dazu ein, in eine neue Denkweise des Genres "Musical" abzutauchen. Wer denkt, er habe im Theater bereits alles erlebt, wird hier eines Besseren belehrt, denn "Hamilton" traut sich modern zu sein, revolutionär zu sein, und mit Text und Musik zu spielen. Das ist groß! Das ist gewaltig! Das ist monumental! Die Erwartungen der deutschsprachigen Musicalfans an Hamburgs neue Show waren riesig und man hatte nur "diesen einen Schuss" und dieser hat voll ins Schwarze getroffen. Im Operettenhaus erlebt der Zuschauer ein großes Werk, welches durch das brillante Zusammenwirken aller für die Entstehung dieses einmaligen Erlebnisses notwendigen Systeme erwächst.
Die kreativen Köpfe rund um Lin-Manuel Miranda haben mit "Hamilton" einen kleinen Epos der modernen Musicalgeschichte geschaffen, dessen qualitativ hochwertige Umsetzung nun das deutsche Publikum im Theater auf der Reeperbahn begeistert. Zugegeben, dem Zuschauer wird hier beim ersten Besuch eine hohe Konzentrationsbereitschaft abverlangt, aber dafür wird dieser zugleich mit einem sprachlichen und musikalischen Feuerwerk belohnt, das Seinesgleichen sucht. 
"Hamilton" - eine Produktion von schierer Größe - statuiert ein Exempel für ein modernes, mutiges und vor allem mitreißendes Theatererlebnis, das sich wortgewaltig sowie spektakulär präsentiert und einmal mehr offenbart, welches Potenzial im Genre "Musical" steckt, Menschen zu bewegen, zu begeistern und nachhaltig zu prägen. Und nun bleibt schlussendlich eigentlich nur noch eines zu sagen: Talk less, smile more and enjoy the magnificent spectacle!

Fotos: (c) Johan Persson 

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