Ein gewaltiger Blick in die Abgründe der menschlichen Seele - "König Lear" bei den Bad Hersfelder Festspielen

Der irische Dramatiker George Bernard Shaw beschrieb das Verhältnis des Menschen zu Kunst und Kultur einst wie folgt: "Wir verwenden einen Spiegel, um unser Gesicht zu sehen. Wir brauchen Kunst, um unsere Seele zu sehen." Theater vermag es, Menschen im Angesicht kleinster Expressionen, kurzer und doch so intensiver Blicke zum Lachen, Weinen, Staunen, Jubilieren und ja, auch zum Erkennnen zu bringen. Einen Ort, an dem jeden Sommer all diese Emotionen in einem Moment des Zelebrierens der Theaterkunst zusammenfließen, bildet die Bad Hersfelder Stiftsruine ab, die alljährlich zur Heimat für die Vielfalt des Theaters wird. Hier erlebt das Publikum eine Achterbahnfahrt der Gefühle, lernt eigenwillige Charaktere kennen, wandelt auf den Spuren kleiner und großer Helden und blickt dabei auch so manches Mal in die tiefen Abgründe der menschlichen Seele. In diesem Jahr hat es eine Produktion auf den Spielplan der traditionsreichen Festspiele geschafft, die eben jene Abgründe des Hungers nach Macht, Anerkennung und Befehlsgewalt offenlegt, wie es wohl kaum einer anderen Geschichte gelingt. Mit Shakespeares "König Lear" wird die Bühne der Stiftsruine zum Schauplatz für ein blutiges Intrigenspiel, welches ein Netz aus Lüge und Betrug hervorbringt, das seine Opfer fordert und aus dem schließlich doch niemand als Sieger hervorgehen kann. Mit einer Inszenierung von Shakespeares Klassiker haben es sich die kreativen Köpfe zur Aufgabe gemacht, die Kunst des Theaters zum Spiegel der menschlichen Seele in all ihren Farben - auch und insbesondere in den dunklen Tönen der Verletzung, der Gier und der Rachsucht - zu machen und Freunde sowie mögliche Kritiker des englischen Dramas zu einer Reise zwischen Seelenheil und Seelenqual zu laden, die in ihrer Dramatik, Exzentrik sowie Stimmungsgewalt unvergessen bleibt...

(c) BHF/S. Sennewald 

König Lear, der langsam aber sicher dem Herbst des Lebens entgegentritt und dessen Kräfte zum Regieren ähnlich wie herabfallende Blätter gen Boden entschwinden, sieht die Zeit gekommen, sein Land sowie seine Besitztümer unter den drei Töchtern Cordelia, Goneril und Regan aufzuteilen. Als Gegenleistung verlangt der König von seinen Sprösslingen nur eines, nämlich die mündliche Bekundung der Liebe zu ihrem Vater. Während Goneril und Regan in scheinheiligen Botschaften der Verehrung und Liebe aufgehen und sich in ihrem Einfallsreichtum großer Worte überbieten, hält sich die Dritte im Bunde bedeckt. Cordelia, die den Verlockungen der prunkvollen Scheinwelt nicht erliegt und deren ehrliche Liebe zum Vater den Wunsch nach Reichtümern und Macht übersteigt, verweigert sich dem Wortgefecht um das begehrte Erbe. Verzweifelt versucht sie ihrem Vater vor Augen zu führen, dass wahre Liebe aus dem Herzen und nicht aus dem Mund spricht, doch König Lear wertet das Schweigen der Jüngsten als Beweis für mangelnde Liebe, enterbt die Tochter und wendet sich voller Wut und Verletzung von ihr ab. Der Fehler des Regenten wird allerdings schnell offenkundig, denn eben jene Münder der beiden anderen Kinder, aus denen zuvor noch die großen Plattitüden einer scheinheiligen Liebeserklärung sprossen, verlassen nun Worte der Verachtung und der Demütigung. Als der König schließlich den Trugschluss erkennt, scheint alles schon zu spät, denn die Stunde der Katastrophe ist bereits mit einem lauten Paukenschlag eingeläutet... Parallel dazu entspinnt sich auch im Hause Gloucester, einer dem Königshaus eng verbundenen Grafschaften, ein Netz der Intrigen zwischen einem Vater und seinen Nachkommen. Graf Gloucester begegnet seinen beiden Söhnen auf ganz unterschiedlicher Ebene. Während Edgar alle Liebe und Achtung des Vaters genießt, sieht sich der uneheliche Sohn Edmund ständig am Rande der Familie. Vom Unmut eines Ausgestoßenen getrieben entwickelt er einen teuflischen Plan, um sich an der Familie zu rächen und den Vater sowie den allseits beliebten Bruder ins Verderben zu stürzen. Der Plan geht auf und so nimmt das Unglück auch in dieser Familie seinen Lauf...

(c) BHF/S. Sennewald 

Das Stück fußt auf zwei Handlungssträngen, die zunächst lediglich parallel zueinander zu verlaufen scheinen, sich jedoch mit Fortgang der Handlung immer stärker überkreuzen und so geschickt zu einem starken Band verknüpfen, aus dem der inhaltliche Stoff des Dramas gewoben wird. Der Zuschauer wird Zeuge einer Tragödie, die gleichermaßen zwei Familien ereilt und die Akteure in ihrem leidvollen Schicksal vereint. Innerhalb beider familiärer Strukturen stehen sich Gut und Böse, Liebe und Niedertracht, Loyalität und Egoismus als personifizierte Antonyme gegenüber, die von einer menschlichen Verkörperung durch die Zeichnung der drei königlichen Geschwister sowie jene der beiden Grafensöhne getragen werden. Das Drama arbeitet somit zwar mit klaren Rollenzuweisungen, durchbricht jedoch zugleich deren vermeintliche Simplizität, indem es den Weg der Figur zu ihrer Charakterzuschreibung komplex gestaltet. Die vermeintlichen Gegenspieler in dieser Geschichte treten nicht von der ersten Sekunde an als stigmatisierte, eindimensionale Bösewichte auf, sondern schreiben ihre Lebensgeschichte auf Grundlage von ganz persönlichen Motiven, die allesamt in einem zersplitternden Familiensystem wurzeln. Daher braucht es auch erst einmal einige Minuten, Zugang zu den einzelnen Charakteren zu finden, denn zunächst bedarf es einer ersten Orientierung für die zugewiesene Rolle der jeweiligen Figuren im großen Gesamtkonstrukt. Die Bad Hersfelder Inszenierung präsentiert das Gegenspiel von different besetzten Charakteren transparent und erlaubt dem Zuschauer zugleich doch auch einen Blick hinter die Fassade. Die Besetzung der Rollen mit hochklassigen Schauspielern macht es dem Zuschauer möglich, eine durchweg ausdruckskräftige Darbietung zu erleben, die von den Verwicklungen starker Charaktere getragen wird.

(c) Johannes Schembs 

Den Mittelpunkt dieser Inszenierung bildet sicherlich die großartige Darstellung des königlichen Protagonisten "Lear", welcher mit schauspielerischer Brillanz von Charlotte Schwab zum Leben erweckt wird. 
Eindrucksvoll durchschifft sie mit ihrer ausgefeilten Verkörperung den Hafen der charakterlichen Wandlung, im Rahmen dessen die Figur immer mehr den Bezug zur Realität verliert und einer gedanklichen Welt des Irrsinns zum Opfer fällt. Meisterhaft durchlebt die Schauspielerin diese Entwicklung auf der Bühne, lässt das Publikum an den Gedankenspielen des zunehmend dem Wahnsinn verfallenden Mannes teilhaben und balanciert mit schauspielerischer Stärke über das dünne Seil des Weltbezugs, das den Charakter noch vor dem Sturz in den Abrgund der völligen Irrationalität bewahrt. Besonders interessant gestaltet sich hierbei die gewisse Doppeldeutigkeit des Wahnsinns, die Lear der rationalen Welt entreißt und ihn zugleich doch auch wieder näher an die Wahrheit, vor der er lange Zeit die Augen verschlossen hat,  heranführt. Die einzigartige Bühnenpräsenz macht Charlotte Schwab zu der perfekten Besetzung für die herausfordernde Hauptrolle des Shakespeare-Dramas, welche nach einer unglaublichen schauspielerischen Intensität verlangt. Die rundum gelungene Verkörperung der Figur beeindruckt in erster Linie nicht dadurch, dass eine weibliche Schauspielerin die Rolle eines männlichen Protagonisten herausragend ausfüllen kann, sondern vielmehr durch die Tatsache, dass eben diese eigentliche Asymmetrie der Geschlechter bei solch einer kraftvollen Darbietung überhaupt keine Rolle spielt. Die Künstlerin gibt sich mit einer solchen Hingabe den charakterlichen Facetten hin und reißt die Theaterbesucher mit ihrer gewaltigen Interpretation des Königs mit, dass nicht eine Sekunde Zeit bleibt, überhaupt einen Gedanken an die Geschlechterfrage zu verschwenden. Die durchdringend tönende stimmliche Präsentation veredelt das ausgefeilte Bild eines alternden Monarchen, der teils ganz und gar aufbrausend und dominant auftritt, nur um im nächsten Moment von dem ihn langsam einholenden Schatten der Gebrechlichkeit umarmt zu werden. Charlotte Schwab gelingt es ausgezeichnet, die Vielschichtigkeit der Figur offenzulegen und mittels schauspielerischer Variabilität zu bekunden, dass sowohl die autoritäre, herrische Seite als auch der verletzliche Kern wichtige Dimensionen der hier zu bestaunenden Charakterzeichnung abbilden.

Friederike Ott begeistert mir ihrer gelungenen Interpretation der jüngsten Tochter "Cordelia", die in ihrer Natürlichkeit sowie Herzensgüte den beiden Schwestern als Gegenentwurf der Habgier und des Egoismus begegnet und sich dem intriganten Spiel um die Krone verschließt. Die Darstellerin präsentiert ein gutmütiges, liebevolles Bild der jungen Frau, die trotz aller Warmherzigkeit doch zugleich von einer enormen Stärke und Standhaftigkeit gezeichnet ist. Wunderbar verbindet die Künstlerin die weiche Seite des Charakters mit einem unbändigen Kampfgeist, der Cordelia dazu verleitet, auch in den stürmischen Zeiten für die Wahrheit sowie die Menschlichkeit zu kämpfen. Ihr gegenüber stehen Spielpartnerinnen und Bühnenschwestern Katrin Röver und Nora Buzalka, die mit gewaltigen schauspielerischen Leistungen in den Rollen der "Goneril" bzw. "Regan" zu überzeugen wissen. Die Darstellerinnen treten sowohl zu zweit als in Machtgier und Eitelkeit verbundenes Schwesternpaar als auch in ihren Solodarbietungen stark auf und begeistern das Publikum mit ihrer prägnanten, spielfreudigen Darbietung. Katrin und Nora gelingt es mit scheinbarer Leichtigkeit, die sich in ihrer Sehnsucht nach Macht, Anerkennung und Dominanz verlierenden und in der eigenen Eitelkeit gefangenen Figuren auszugestalten. Gerissen treiben die beiden Töchter des Königs ihr perfides Spiel und verbünden sich gegen den alternden Vater. Messerscharf decken die Schwestern Anfälligkeiten in der vordergründigen väterlichen Dominanz auf und durchkämmen jeden Winkel voller Eigennutz nach möglichen Vorteilen für die eigene Person. 

(c) Johannes Schembs 

Nicht minder herausragend gestaltet sich die spielerische Präsenz der weiteren Künstler. So bleibt vor allem die schauspielerische Leistung von Günter Alt im Gedächtnis, dem es mit einer Mischung aus künstlerischem Scharfsinn sowie handwerklicher Versiertheit gelingt, aus Shakespeares Vorlage eine erstaunlich nahbare Figur zu formen. Fabelhaft präsentiert der Schauspieler eine eindruckvolle Interpretation des "Kent", ein treuer Begleiter des Königs, der Lear stets vor Unheil zu bewahren versucht, doch in dem Bestreben, seinem König den rechten Weg zu weisen, zugleich auch kein Blatt vor den Mund nimmt. Authentisch verkörpert Günter Alt die große Aufopferungsbereitschaft eines Mannes, der Recht von Unrecht zu unterscheiden vermag und für den von den Beteuerungen der Töchter geblendeten König Lear zu einem treuen Weggefährten wird, der sich stets versteckt hält und dessen Argusaugen doch in jedem Moment über den Monarchen wachen.

Die Idee, den Shakespeares Werk entstammenden Narren in einer Art Dreidimensionalität darzustellen, entpuppt sich schnell als kluger Schachzug der Dramaturgie. Spätestens jener Moment, in dem sich zum ersten Mal die drei Stimmen von Anna Graenzer, Bettina Hauenschild und Beatrix Doderer vermischen und die Illusion eines verzerrten, transzendent anmutenden, ja beinahe von einer gewissen Geisterhaftigkeit unterlegten Sprachduktus erzeugen, offenbart das Potenzial, welches in der Wahl dieser Formation verborgen liegt. Die drei Bühnenpartnerinnen lassen sich voll und ganz auf das Zusammenspiel ein, richten ihre gesamte Aufmerksamkeit auf das gemeinsame Wirken von Theatermagie und bilden so ein harmonisches Trio, das sich zu einer spielerischen Einheit verwebt. Die Aufspaltung des Charakters verlangt den Künstlerinnen eine besonders hohe Sensibilität für die gemeinsame Interaktion ab, welche hier im Rahmen einer schauspielerischen Vereinigung und dem kollektiven Leben einer Figur mündet. Manchmal herrlich-schräg, ab und an in ihrem übernatürlich erscheinenden Charakter fast schon ein wenig unheimlich, schweben die drei Närrinnen über die Bretter, die die Welt bedeuten, und werden dabei zum Schatten des rastlosen Königs - ein Schatten, dem der alternde Mann nicht nur unter lokalen Gesichtspunkten kaum entweichen kann. Die Drei folgen auf Schritt und Tritt und erheben sich zum Spiegelbild eines immer mehr dem Wahnsinn verfallenden Seelenlebens. Die Närrinnen fungieren als Sprachrohr einer inneren Stimme, die jegliche Rationalität zu verhöhnen scheint und gleichermaßen zum Revolt gegen die weltlichen wie gegen die seelischen Dämonen aufruft.

(c) BHF/S. Sennewald 

Der zweite Handlungsstrang entspinnt sich aus dem Konflikt der Grafenfamilie "Gloucester" heraus, der in schauspielerischer Präzision ebenso greifbar auf der Bühne ausgebreitet wird. Der Vater, der mit seinem egozentrischen, verletzenden Verhalten den Stein für die Tragödie erst ins Rollen bringt, wird eindrucksvoll von Max Herbrechter präsentiert. Authentisch entwickelt er die Figur von einem selbstbezogenen Familienoberhaupt hin zu einem einsamen, gezeichneten Mann, der vor dem Scherbenhaufen seiner eigenen Fehler steht und zum Opfer eines bitteren Rachespiels wird. Hervorragend gelingt es dem Schauspieler, den emotionalen Kern Gloucesters Stückchen für Stückchen von der vordergründigen Eiseskälte zu befreien, die insbesondere seinen unehelichen Sohn Edmund zu Beginn der Geschichte trifft. Besonders beeindruckend verkörpert der Künstler hierbei vor allem das zunehmende Erkennnen der eigenen Fehler und die damit verbundenen nagenden Selbstvorwürfe, blind für die Wahrheit gewesen zu sein. Max Herbrechter macht das innere Erleben des Charakters für den Zuschauer mit jeder Szene transparenter, indem er den Theaterbesucher im Rahmen einer ausgeklügelten, emotionalen Darbietung an den Qualen der Figur teilhaben lässt und die zunächst in einem dunklen Gefängnis eingesperrte Seele Gloucesters befreit.

Komplettiert wird die Grafenfamilie durch die Söhne "Edgar" und "Edmund", die überzeugend von Bijan Zamani sowie Phillip Henry Brehl gemimt werden. Letzterer vermag es mit einer pointierten Darbietung den anfänglichen Konflikt Edmunds, der sich von seinem Vater zurückgewiesen und ausgegrenzt fühlt, für die Zuschauer offenzulegen und einen Blick in die verletzte Seele des stets familiär benachteiligten jungen Mannes zu gewähren. Mit viel Fingerspitzengefühl entwickelt der Darsteller eine glaubwürdige Version der in diesem Stück als zentraler Bösewicht fungierenden Figur, ohne den Charakter dabei gänzlich auf seine langsam aufkeimende Rachsucht zu reduzieren. Geschickt führt er dem Zuschauer die innerlich brodelnde Wut des Ausgegrenzten vor Augen und garniert diese mit einer latenten Verzweiflung und Verletzlichkeit, die Edmund - trotz aller Bosheit - zugleich zu einem greifbaren, sensiblen Charakter macht. Auch Bijan Zamani weiß mit seiner nicht minder gelungenen Verkörperung des älteren Sohnes Edgar zu beeindrucken, der von seinem Vater dem jüngeren Bruder zunächst ständig vorgezogen wird, schon bald darauf jedoch in das Kreuzfeuer eines durchtriebenen Racheaktes gerät und fliehen muss. Meisterhaft haucht der Schauspieler der Figur Leben ein, die nach der Flucht die Identität des armen Obdachlosen "Tom" annimmt und - verborgen in der Gestalt des verwirrten Bettlers - über den Vater wacht und zu dessen heimlichem Schutzengel wird. Bijan entwickelt einen Charakter im stummen Heldentum, der vor der durch den Bruder Edmund heraufbeschworenen blinden Wut des Vaters fliehen muss und in der damit verbundenen Einsamkeit doch nie seine Menschlichkeit verliert.

(c) BHF/S. Sennewald 

In altertümlich kunstvoller Sprache, die von dem Zuschauer trotz des genommenen Abstands vom Versmaß eine hohe Aufmerksamkeitsspanne fordert, erklingen die inhaltsvollen Dialoge auf der Bühne der Stiftsruine, welche zum Schauplatz für eine der dramatischsten und blutrünstigsten Geschichten Shakespeares wird. Poetische Klänge und bedrückende, teils grauenvolle Bilder treffen hier zusammen und vereinen sich zu einem Werk, das die typische Handschrift des großen Dichters seiner Zeit trägt und bei den diesjährigen Bad Hersfelder Festspielen zu einem hoch atmosphärischen Theatererlebnis erwächst. Die Vereinigung des kunstvollen Wortes mit der tragischen Handlung gestaltet sich in ihrer Rezeption ebenso spannend wie die gewisse Prise Skurrilität, die in die dargebotene Produktion einfließt. Das gesamte Gewand der Inszenierung spielt mit einer "theatresken" Ästhetik der Hässlichkeit oder Absonderlichkeit, die sich teils in Figuren und Handlung ebenso wie in der visuellen Gestaltung widerspiegelt. 

Das Bühnenbild wird im ersten Teil von einer festlichen Tafel dominiert, an der die gezeigte Handlung ihren Ursprung findet und die eine Vereinigung der unterschiedlichen Charaktere zu Beginn des Stücks ermöglicht, aus welcher sich bereits im ersten Akt die krisenhaften Stränge der beiden beleuchteten Familiengefüge entspinnen. Versammelt zur Feierlichkeit - König Lear lädt zu seinem 80. Geburtstag - treffen alle Generationen aufeinander, deren Konflikte bereits in der ersten Szene ausgebreitet und im Laufe der Handlung gekonnt und ganz unaufdringlich miteinander verwoben werden. Besonders geschickt erscheint hierbei die Einbindung einer Drehtür im Hintergrund - ein simples Gestaltungsmittel des Bühnenbildes, das klug bespielt werden kann. 
Nach der Pause wird der Theaterbesucher mit einer merklich düstereren Kulisse konfrontiert, die das Schicksal der beiden Familien und die damit einhergehende Zuspitzung des Konflikts in dunklen Tönen visualisiert. Die Bühne verwandelt sich in eine graue Landschaft, über die ein Sturm hinwegfegt und die von einer schrecklichen Trostlosigkeit gezeichnet ist. Über die Ruine legt sich eine melancholische, bedrückende, fast schon apokalyptische Stimmung der Schwere und der Ausweglosigkeit.

(c) BHF/S. Sennewald 

In der Produktion stehen Zwist und Niedertracht im Mittelpunkt, die sich vor dem Hintergrund eines familiären bzw. generationenentzweienden Konfliktes ausbreiten. Stetig spitzt sich die Situation zu und verspricht, in einer großen Katastrophe zu münden. Sinnliche Celloklänge unterstreichen die atmosphärische Darbietung und verkünden im Hintergrund die unheilvolle Botschaft. Lea Tessmann entlockt ihrem Instrument stimmungsgeladene Melodien, die von der drohenden Gefahr, der beide Familien unaufhaltsam entgegenschreiten, künden. Diese akustische Untermalung gibt der Szenerie eine ganz eigene Sprache und trägt maßgeblich zu dem Aufbau einer fesselnden Atmosphäre bei, die den Besuch im alten Gemäuer prägt und den Zuschauer über den Abend hinweg in einer fiktiven Welt gefangen hält. Hin und wieder verliert das Stück etwas an Tempo, büßt dabei doch niemals an Dringlichkeit und Intensität ein. Kontinuierlich bleibt ein Spannungsbogen aufrechterhalten, der vor allem dank der Stimmungsgewalt der Inszenierung unter die Haut geht.
Hier ist nichts, wie es vordergründig zu sein scheint. Shakespeares Werk spielt mit von dem Deckmantel der großen Familienliebe umhüllten Täuschungen, die sich in Zwist und Niedertracht ergießen, Familien entzweien und schließlich einen Kampf zwischen Bosheit sowie Egoismus und dem Kern der menschlichen, liebenden Seele entfachen. Der Ausruf "Immer noch Sturm!" wird zum Sinnbild für das dramatische Gesamtwerk, im Rahmen dessen die Figuren schwere Schicksalsschläge verkraften und stürmischen Zeiten trotzen müssen.

(c) Johannes Schembs 

Das Programm der Bad Hersfelder Festspiele überzeugt Jahr für Jahr insbesondere durch einen bemerkenswerten Facettenreichtum, der vor dem Hintergrund einer bunten Auswahl an Produktionen beweist, wie vielfältig Theater doch sein kann. Komödiantische Einschläge treffen auf große Tragödien und erlauben dem kulturaffinen Publikum aus einem Potpourri an different besetzten Inszenierungen zu wählen oder sich vielleicht auch von der gesamten durchschlagenden Wucht des theatralen Konglomerats begeistern zu lassen. Für alle Freunde der klassisch-poetischen Shakespeare-Tragödie hält "König Lear" einen beeindruckenden Theaterabend der schweren Kost unter dem sternenbesetzten Himmelsdach bereit. Doch auch jenen Neulingen, die sich erstmals an den komplexen Stoff wagen, ermöglicht die Bad Hersfelder Inszenierung einen guten Blick in das shakespearisch bildgewaltige Drama. Den Machern um Regisseurin Tina Lanik ist eine rundum beeindruckende Inszenierung voller dramaturgischer Kniffe gelungen, die Shakespeares Handschrift gerecht wird und zugleich eine eigene Note in der Umsetzung findet, welche in erster Linie in der einzigartigen Wechselwirkung zwischen Produktion und atmosphärischem Ambiente wurzelt, die in ihrer Exklusivität lediglich der wunderschöne Bad Hersfelder Spielort zu bieten hat.

(c) Johannes Schembs 


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