Das Leben nur gemietet - Rent, ein unendlicher Pinselstrich auf der Leinwand der Endlichkeit

Leben - so ein einfaches Wort, geformt aus nicht mehr als fünf Buchstaben und doch so voller Tiefe, Bedeutsamkeit und Kraft. Leben, was bedeutet das eigentlich? Ist es die Verwirklichung des eigenen Selbst oder ist es vielmehr der Blick auf das Außen und die wunderbare Vielzahl an Menschen, die uns Tag für Tag begegnen und dabei manchmal im Kleinen große Wunder vollbringen? Ist es das sichere Umschiffen von Problemen, die es zu vermeiden gilt, um den Wert des Tages zu steigern, oder ist es genau diametral gesprochen die direkte Konfrontation mit Herausforderungen und Schwierigkeiten, die es zu lösen gilt? Geht es im Leben um das Festhalten oder das Loslassen? Sollen wir lenken oder uns durch das weite Meer treiben lassen? Leben, fünf Buchstaben, die den Duft von Gegensätzlichkeit, Farbigkeit und von Vielfalt in sich tragen. Lassen wir uns das Wort einmal bewusst auf der Zunge zergehen, spüren jeder Ecke und Kante nach und werfen auch einen Blick in die verborgenen Winkel der allumfassenden Begrifflichkeit, so merken wir doch schnell, wie viel Inhalt und vor allem auch wie viel Fraglichkeit in fünf einfachen Buchstaben verwurzelt sein kann. Wir stecken jeden Tag mitten drin in diesem Mysterium, das sich Leben nennt, wir glauben, all seine Gestalten zu kennen und doch braucht es hin und wieder auch den kritischen, reflexiven Blick von außen auf das, was wir eigentlich nur aus der inneren Perspektive kennen. Umso schöner, dass Kunst und Kultur einen besonderen Zugang zu dem Wort "Leben" bieten und dem Gefühl der Lebendigkeit nachspüren können. Der Broadwayklassiker "Rent" stellt eben jene Frage nach dem Kern des Lebens mit außergewöhnlicher Intensität und Kraft in das Zentrum einer Geschichte, die all die Gegensätze des Seins vereint. Nachdem das Stück über viele Jahre das amerikanische Publikum begeistern konnte, eröffnet das Theater Dortmund in dieser Spielzeit auch den deutschen Zuschauern einmal wieder die Möglichkeit, in das Zusammenspiel starker Charaktere einzutauchen, deren Lebenswege sich schicksalhaft kreuzen und die gemeinsam verstehen lernen, dass das Bild des Lebens aus so vielen farblichen Nuancen besteht, doch in seiner Verwirklichung auf der Leinwand nur vom Künstler selbst verändert, präzisiert und mit einem Licht- und Schattenspiel unterlegt werden kann. Es braucht die dunkleren Farbnuancen, um das Helle im Kontrast der Bildlichkeit strahlen zu lassen. 

(c) Theater Dortmund 

Die Handlung entführt in das New York der 90er Jahre und zoomt dort in eine kleine Mansardenwohnung im East Village, in der Filmemacher Mark und Musiker Roger unter einem Dach leben und ihrer jeweiligen Leidenschaft nachgehen, die jedoch nicht genug Geld für die Miete einbringt. Mit ihrem künstlerischen Schaffen schlagen sich die Beiden so durch, während Mark auf der Suche nach besonderen Geschichten, die ihm vor die Linse kommen, stetig durch die Straßen New Yorks streift, zieht sich Roger zurück, verlässt kaum die eigenen vier Wände und versucht seine Verzweiflung und all die Ängste, die ihn seit einem schicksalhaften Tag plagen, in sich einzusperren. Unermüdlich arbeitet der junge Mann an Melodien, die das ausdrücken sollen, wofür Worte alleine nicht reichen. So entzieht er sich gänzlich der Außenwelt und igelt sich in seiner Trauer und Hoffnungslosigkeit ein, bis eines Tages plötzlich die attraktive Mimi Marquez vor seiner Tür steht. Die unbekannte Frau übt in ihrer selbstbewussten und charmanten Art sogleich eine starke Anziehungskraft auf den zurückgezogenen Musiker aus und verkörpert dabei doch zugleich all das, wovor Roger sich so krampfhaft zu schützen versucht. Von seinen widersprüchlichen Gefühlen geleitet, begibt sich der junge Mann auf eine abenteuerliche Reise, die ihn raus aus der kleinen Mansardenwohnung, rein in das pralle Leben des New Yorker East Village führt, in dem das jugendliche Lebensgefühl einer freiheitlich denkenden Künstlergeneration pulsiert. An der Seite von exzentrischen Freunden und Wegbegleitern wird Roger mit der Endlichkeit der menschlichen Existenz sowie der Unendlichkeit menschlicher Liebe konfrontiert und lernt damit wohl den essenziellsten Gegensatz des von Kontrasten geprägten Begriffs "Leben" kennen.

Im Rahmen der Geschichte treffen ganz unterschiedliche Charaktere aufeinander, die mal schrill und aufgedreht den Moment feiern und dann doch, getragen von ihrer individuellen Zerbrechlichkeit, ganz still in Melancholie, Nachdenklichkeit und Sehnsucht aufgehen. 
Für die Besetzung der einzelnen Charaktere konnte eine großartige Cast gewonnen werden, die in ihrer künstlerischen Brillanz ohne Frage das Herzstück der Dortmunder Inszenierung bildet. 

In der Rolle des mittellosen Musikers "Roger Davis", der seit seiner HIV-Diagnose und dem Suizid seiner ebenfalls erkrankten Freundin tagtäglich mit seinen inneren Dämonen zu kämpfen hat, begeistert David Jakobs mit einer rundum herausragenden Darstellung. Mittels nuanciertem Schauspiel gelingt es dem Künstler fabelhaft, sich zwischen den einzelnen Facetten einer charakterlich komplexen Figur zu bewegen und die emotionalen Ausbrüche Rogers ebenso authentisch auf die Bühne zu bringen wie die Verschlossenheit und Verzweiflung, welche den jungen Mann im Angesicht seines schweren Schicksals immer wieder übermannen. Das Zusammentreffen mit der jungen Mimi wirbelt das Leben des erkrankten Musikers völlig durcheinander und ruft widersprüchliche Gefühle in ihm hervor. Feinfühlig präsentiert David den inneren Konflikt der Rolle, der sich in einer prägnanten Zerrissenheit zwischen Anziehung und Ablehnung aufgrund von eigenen Ängsten spiegelt. Der Zuschauer trifft dank einer Mischung aus großartigem schauspielerischen Handwerk und hoher emotionaler Intelligenz des Darstellers auf eine bewegte, mehrschichtige Figur, die viel Liebe in sich trägt und doch versucht, Schutzmauern um ihre Gefühle zu errichten. Zieht sich Roger in der Realität immer wieder in seinen Käfig aus Ängsten und Trauer zurück, spannt er doch in seiner Musik, die zum Anker in stürmischen Zeiten wird, weit die Flügel aus und gibt sich der Wucht an unter der Oberfläche brodelnden Emotionen hin. Diese Verbundenheit mit der Sprache der Musik fängt David Jakobs im Rahmen seiner Darbietung spielerisch sowie stimmlich grandios ein und schafft auf der Suche nach dem einen Lied, das Roger der Welt hinterlassen möchte, emotional ergreifende Höhepunkte, die in einer besonderen künstlerischen Qualität des Darstellers wurzeln. David vermag es mit seiner Hingabe für den Charakter, alle figural vereinten Emotionen mit einer kaum zu beschreibenden Tiefgründigkeit und Ehrlichkeit aufleben zu lassen und so einen von Gegensätzen geprägten Protagonisten zu zeichnen, der von Angst und Unruhe innerlich getrieben auf der Suche nach dem eigenen Seelenfrieden ist.

Christof Messner verkörpert die Rolle des jungen "Mark Cohen", der - unzertrennlich mit seiner Kamera - stets auf der Suche nach guten Geschichten ist, mit einer großen Portion an Feingefühl und Herzblut. Mit schauspielerischem Geschick zeichnet der Künstler eine sympathische Fassung des Filmemachers, die mitten aus dem Leben gegriffen zu sein scheint und nur so vor Ehrlichkeit und Authentizität strotzt. Immer voller Enthusiasmus mit der Kamera unterwegs, muss sich der junge Mann doch abseits aller Aufnahmen fragen: Wer bin ich und wofür stehe ich ein? 
Ausgezeichnet mimt Christof einen treuen, freundschaftlichen Charakter, der sich mit seiner Clique eng verbunden fühlt und stets mit helfender Hand und offenem Herzen zur Seite steht. Der Künstler lässt seiner Interpretation des warmherzigen Mannes viel Fingerspitzengefühl zuteil werden und berührt durch eine ausgeklügelte, leidenschaftliche und tiefgehende Interpretation einer Figur, die nicht nur in ihrer Menschlichkeit beeindruckt, sondern zugleich auch andere Figuren durch ihre Charakterlichkeit im Zusammenspiel strahlen lässt. Veredelt wird das authentische Spiel von einer phänomenalen gesanglichen Leistung, die der facettenreichen musikalischen Linie mehr als gerecht wird. Mit seinem wunderbaren, warmen Tenor singt sich Christof blitzschnell in die Herzen des musikaffinen Publikums und überzeugt mit einer kraftvollen und zugleich samtig ummantelnden gesanglichen Darbietung. 

Einer der mehr oder weniger heimlichen Publikumslieblinge an diesem Abend ist sicherlich Lukas Mayer, der mit einer ebenso ausdrucksstarken wie gefühlvollen Interpretation der Drag-Queen "Angel" zu begeistern vermag. Variabel zeigt sich der Darsteller in den unterschiedlichen Nuancen der Rolle, die sich je nach szenischer Situation in den Vordergrund drängen. Dabei reduziert er die Figur nicht nur auf ihr schrilles Äußeres und ihre exzentrische Art, sondern blickt schon früh hinter die geschminkte Fassade eines Charakters, der das Herz am rechten Fleck trägt und mit seinem Feingefühl für seine Freunde zu einem Leuchtturm in dunklen Nächten wird. Hier wird kein Stereotyp einer das Rampenlicht suchenden Künstlerfigur präsentiert, ganz im Gegenteil, das Publikum lernt einen vielschichtigen, manchmal in aller Lautstärke und Energie doch ganz leisen, intimen Charakter kennen, der in seiner Menschlichkeit und reinen Herzensgüte jegliche Grenzen zwischen klischeebesetzten Geschlechtsmustern aufbricht. Meisterhaft gelingt dem Schauspieler die Balance zwischen aufgeregten, extravaganten und ganz ungeschminkten, den menschlichen Kern der Figur betonenden Momenten, sodass in dem bedachten Schauspiel ein ganz eigener Habitus der Figur aufblühen kann. Nicht minder stark präsentiert sich Lukas' stimmliche Klasse, die den anspruchsvollen musikalischen Passagen der Show scheinbar mühelos gerecht wird. Sicher bewegt sich der Sänger mit seiner Stimme in einem beeindruckenden Tonumfang und unterstreicht dabei insbesondere seine besonderen Qualitäten in der Kopfstimme. 

An seiner Seite überzeugt Bühnenpartner Alex Snova mit seiner ausgefeilten Interpretation des jungen "Tom Collins" auf ganzer Linie. Mit seiner gesamten Körperlichkeit sowie Emotionalität gibt sich der Darsteller über den Abend hinweg der Seele des Charakters hin und macht mit seiner schauspielerischen Hingabe das bewegte Innenleben des jungen Mannes für die Theaterbesucher transparent. Der Künstler scheut sich nicht, unterschiedliche Farben der Gefühlspalette zu erkunden und tief in die Figur sowie in ihre leidenschaftliche Verbindung zu Drag-Queen "Angel" einzutauchen. Sensibel reichert der Schauspieler die Beziehung der beiden Figuren mit ganz viel Wärme und Zärtlichkeit an und erschafft schöne Momente der Intimität im Rahmen eines oftmals doch so lauten und drängenden Stücks. Abgerundet wird die Darbietung von einer grandiosen gesanglichen Leistung, die die Gefühlswelt Toms in ebenso sanfter wie eindringlicher Weise transportiert. Dem Sänger gelingt es nicht nur, seine versierte stimmliche Ausbildung unter Beweis zu stellen, sondern zugleich in einem Spiel mit Tönen und Klängen musikalische Geschichten zu erzählen. Einen emotionalen Höhepunkt bildet hierbei eine von Alex Snova in jeder Hinsicht fantastisch verkörperte Szene ab, im Rahmen derer die Figur einen für sie prägenden Verlust betrauert und all ihre Liebe, ihren Schmerzen sowie ihre Erinnerungen in einem einzigen Moment zusammenfließen lässt. Dank des Mutes, sich auf den Brettern, die die Welt bedeuten, komplett für das Innenleben des Charakters zu öffnen, wird das Publikum mit einer unglaublich berührenden Interpretation dieser Szene konfrontiert, die unter die Haut geht und all den Schmerz, aber zugleich auch die unauflösliche Verbindung der Liebe spüren lässt.

Weiterhin weiß Patricia Meeden mit einer ausdrucksstarken und kraftvollen Darbietung in der Rolle der jungen "Mimi Marquez" zu brillieren, die eines Abends vor Rogers Tür auftaucht und ihn mit ihrer äußeren sowie inneren Attraktivität sogleich verzaubert. Dank der schauspielerischen Qualitäten Patricias trifft das Publikum auf eine scheinbar durch und durch selbstbewusste junge Frau voller Lebensfreude und Sinn für Leichtigkeit, die jedoch auf den zweiten Blick ebenso viele Unsicherheiten in sich trägt und an ihrer Drogenabhängigkeit zunehmend zu zerbrechen droht. Immer wieder versucht Mimi sich ihrer Liebe zu Roger voll und ganz hinzugeben und immer wieder wird sie dabei von ihrer Sucht eingeholt, die eine Beziehung zwischen den beiden Charakteren, welche sich in ihrer Einsamkeit zusammenfinden, unmöglich zu machen scheint. Wunderbar gelingt der Schauspielerin der Spagat zwischen Stärke und Vulnerabilität, mittels dessen sie der Figur eine authentische Multidimensionalität verleiht. Die vielschichtige Rolle bietet der Künstlerin die Möglichkeit, ihr gesamtes Können auf der Bühne eindrucksvoll unter Beweis zu stellen. So präsentiert sie sich spielerisch erstklassig und vermag ebenso mit ihrer Körperlichkeit und physischen Beweglichkeit als Tänzerin in einem Nachtclub zu begeistern. Der Darstellerin haftet eine außergewöhnliche Ausstrahlung an, die es dem Zuschauer unmöglich macht, den Blick abzuwenden. Das Sahnehäubchen der Performance bildet jedoch ohne Frage eine stimmliche Meisterleistung, mit der Patricia ihre Darbietung veredelt und den Theatersaal mit großen Tönen erfüllt. Egal, ob zarte Klänge oder kraftvolle musikalische Explosionen in fabelhafter Belt-Manier - die Künstlerin stimmt in ihren prägnanten Gesangspartien stets den richtigen Ton an, beweist eine ausgezeichnete Technik und verfeinert das handwerkliche Können mit einer ordentlichen Portion Leidenschaft und emotionaler Stärke. Feingeistig arbeitet Patricia die unterschiedlichen Farben der Songs aus, setzt gekonnt Riffs in die tonalen Linien und lässt auch die leisen musikalischen Momente in einer ungeahnten Größe scheinen.

Die Figur der "Maureen Johnson", die mit ihrer selbstbewussten Art gleichermaßen fasziniert wie aneckt, wird mit viel schauspielerischer Raffinesse und künstlerischer Intelligenz von Bettina Mönch zum Leben erweckt. Die Darstellerin präsentiert eine exaltierte, vorlaute und stark überspitzt gezeichnete Frauenfigur, die gerne in der Aufmerksamkeit anderer Menschen badet und nicht davor zurückschreckt, mit kuriosen Auftritten, flippigen Outfits sowie unverblümten Aussprüchen zu überraschen. "Maureen" ist ein Charakter, der in aller Skurrilität überfordern kann und der durch eine komödiantische, sich jeglicher Übertreibung bedienenden Zeichnung polarisiert. Unzweifelhaft hingegen präsentiert sich die Erkenntnis, dass Bettina auch im Rahmen dieses Engagements wieder einmal beweisen kann, welch Ausnahmetalent in der Künstlerin steckt. Mit scheinbarer Leichtigkeit schmettert sie ihre kraftvollen Töne in den Zuschauerraum hinaus, beweist eine grandiose Range und lässt mit ihrem herausragenden Belt alle Münder offenstehen. Die Künstlerin verleiht ihrer Figur eine wunderbare Lässigkeit, die sich auch auf die Gesangsparts niederschlägt. Mit scheinbarer Leichtigkeit erblüht Bettinas unvergleichliche Stimme in anspruchsvollen Passagen und macht eine klangliche Qualität transparent, die man in dieser Präzision und Strahlkraft wohl selten zu hören bekommt. Neben all der Energie und Exzentrik, die die Figur der Maureen auf der Bühne versprüht, wirken die sparsam gestreuten und doch von der Darstellerin stets hervorragend aufgegriffenen Momente der ehrlichen Emotionalität, die sich vor allem nach dem Streit mit Lebensgefährtin "Joanne" einstellen, im Kontrast besonders kraftvoll.

Nicht minder stimmgewaltig und ausdrucksstark präsentiert sich Amani Robinson, die mit ihrem künstlerischen Talent das gesamte Potenzial aus der Figur der "Joanne Jefferson" herauskitzelt. Mit sichtlicher Spielfreude verkörpert sie eine schlagfertige Frauenfigur, die in Maureen ihre große Liebe gefunden hat, sich jedoch zunehmend von der dominanten Partnerin abnabelt und ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zum Ausdruck bringt. In Windeseile nimmt die Künstlerin mit ihrer Präsenz und spielerischen Leichtigkeit das Publikum für ihre charakterstarke Rolle ein und kreiert eine nahbare Version einer gefühlvollen jungen Frau, die manchmal noch auf der Suche nach sich selbst ist und zugleich doch eigentlich bereits so viel Eigenständigkeit und Selbstvertrauen in sich trägt. Glaubwürdig erweckt Amani die Figur in ihrer Standhaftigkeit und ihren emotionalen Konflikten zum Leben und verbindet die intimen Momente spielerisch mit kleinen humoristischen Pointen, die die Darstellerin präzise in eine rundum gelungene Rollenpräsentation einstreut. Das Spiel lässt sich wohl am besten als raffiniert und scharfsinnig beschreiben, bewegt sich die Künstlerin doch ganz sicher zwischen den einzelnen Facetten des Charakters und gibt der Figur auch in jenen Momenten, in denen der Fokus nicht auf ihr liegt, den Raum zu wachsen. Auch auf gesanglicher Ebene reiht sich Amani an diesem Abend in die Riege großer Stimmen ein und präsentiert ihren wundervoll warmen, eindringlichen und klangvollen Sopran, der durchweg bezaubert. 

Zudem sticht Pedro Reichert mit einer rundum gelungenen Darstellung des "Benjamin Coffin" - genannt "Benny" - hervor, der sich seit seiner Heirat in eine wohlhabende Familie in anderen monetären Sphären als seine alten Freunde bewegt und stets auf der Suche nach dem großen Gewinn ist. Trotz aller Abgehobenheit verbirgt sich hinter der elitär angehauchten Schale jedoch noch ein treuer, freundschaftlich mit seiner ehemaligen Clique verbundener Kern, der es dem jungen Mann unmöglich macht, die Bande zu seinem Freundeskreis, der wenig Wert auf Vermögen und Außenwirkung legt, vollständig zu kappen. Der Darsteller arbeitet diesen inneren Zwist zwischen Neuorientierung zur wohlhabenden Schicht und Verbundenheit mit seinen andere Werte verkörpernden Jugendfreunden authentisch aus und kreiert eine kernige Version der manchmal etwas antagonistisch anmutenden Figur, die sich oftmals selbst nicht eingestehen will, wie verwurzelt sie hinter der blasierten Fassade eigentlich mit ihren weitaus weniger vermögenden Freunden ist. Besonders geschickt lässt Pedro jenen Konflikt transparent werden, der sich aus der Eifersucht auf die romantische Verbindung zwischen Roger und Mimi, der er sein Herz ebenfalls gerne zu Füßen legen würde, entspinnt.


Die Produktion entpuppt sich als absolutes Ensemblestück, das von dem Zusammenspiel ausdrucksstarker Charaktere getragen wird, die sich im Laufe der Geschichte zu einer Einheit formieren, welche mit der geballten Kraft einer Gemeinschaft an Herausforderungen und Schicksalsschlägen wächst und lernt, ihren eigenen Weg inmitten aller Hürden des Lebens zu finden. Jeder Künstler trägt mit seinem spielerischen und vor allem mit seinem gesanglichen Können dazu bei, dass die Show in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit aufgeht. Das Ensemble formiert sich durch sechs junge Darsteller, die aktuell an der Folkwang Universität ihre künstlerische Ausbildung absolvieren, sowie durch zwei weitere Ensemblemitglieder, die allesamt eine hohe Begeisterungsfähigkeit und Leidenschaft auf die Bühne transportieren. Die gesamte Cast präsentiert sich unglaublich stimmgewaltig und gesanglich versiert, sodass es für die Künstler ein Leichtes ist, die das Musical in prägnanter Weise veredelnden Chorpartien und Mehrstimmigkeiten mit ihrer gesanglichen Brillanz zum Leuchten zu bringen. Selten erfüllen den Theatersaal über eine gesamte Aufführung hinweg solch atemberaubende, monumentale und immer wieder aufs Neue Gänsehaut bescherende Klänge wie in dieser Dortmunder Inszenierung. Mit musikalischem Enthusiasmus bringen Hauptdarsteller wie Ensemblemitglieder als künstlerische Einheit die Bühne förmlich zum Beben und entzünden ein stimmliches Feuerwerk, auf den Brettern, die die Welt bedeuten. 

Der Name Gil Mehmert verspricht eindrucksvolle sowie mitreißende Inszenierungen und auch in diesem Fall ist dem Regisseur wieder ein spannendes, expressives inszenatorisches Gewand gelungen, das den mannigfaltigen Anforderungen des komplexen Stoffs umfassend gerecht wird. "Rent" gestaltet sich vielschichtig und greift eine Reihe von tiefgreifenden Themen auf, die teils lediglich angedeutet und teils in ihrer Bedeutsamkeit auserzählt werden, ohne die Produktion dabei auf den ernsten Kern gesellschaftskritischer Inhalte zu reduzieren. Die Vielzahl an Ideen, die sich nicht nur auf thematischen Ebenen niederschlägt, kann den Zuschauer hier leicht überfordern. Die Szenenwechsel präsentieren sich temporeich, immer wieder werden neue erzähltechnische Kniffs eingebracht und auch die Musik ist geprägt von spielerischer Variabilität. Umso stärker ist die Aufmerksamkeit des Publikums von der ersten Szene an gefordert, die gleich ohne Umschweife mitten ins Herz der Geschichte führt, und es braucht eine Offenheit des Theaterbesuchers für den kreativen und thematischen Reichtum, der sich durch das gesamte Werk zieht.
Trotz aller Nachdrücklichkeit des Stücks finden sich im ersten Akt jedoch einige Längen, die auch der temporeiche Start in die Geschichte nicht überdecken kann. Umso mitreißender gestaltet sich jedoch dann der zweite Akt, welcher dem Publikum nicht nur kaum eine Pause zum Durchatmen gewährt, sondern zugleich auch vielmehr die leisen, gefühlvollen Szenen in den Mittelpunkt rückt, die es im Zusammenspiel mit all der Wucht an rockig-fetzigen Nummern und exzentrischen Szenen unbedingt braucht. 

Das Theater Dortmund bietet aufgrund der Beschaffenheit der Bühne tolle Möglichkeiten, ein Musical in beeindruckender Kulisse zu inszenieren. Wie bereits in anderen Produktionen wird auch hier ein Spiel über mehrere Ebenen erstreckt. Der Bühnenboden kann hochgefahren werden und enthüllt darunter noch eine zweite bespielbare Etage, die wiederum geschickt durch Mauerstücke different untergliedert und an die jeweilige szenische Situation angepasst werden kann. Diese Mehrdimensionalität des Bühnenbildes lässt nicht nur plastische Bilder entstehen, sondern bietet vor allem viel Raum, um mehrere Ebenen gleichzeitig in eine Sequenz einzuflechten und die Figuren dabei an unterschiedlichen Orten, die je nach Ebene manchmal mit einer sehr schönen Symbolkraft unterlegt sind, agieren zu lassen. Das ausgeklügelte Lichtdesign unterstützt die dargebotenen Bildlichkeiten in ihrer plastischen Form mit einem abrundenden Lichtspiel.

Der Ideenreichtum, welcher sich in puncto Themenvielfalt und Verflechtung unterschiedlicher Handlungsstränge zeigt, setzt sich bei dieser Show auch in der musikalischen Gestaltung fort, die zum zentralen Erzählmittel des Musicals wird. In "Rent" werden die Dialoge kaum durch gesprochene Passagen getragen, vielmehr fußt die gesamte Geschichte auf musikalischen Arrangements, die die Handlung vorantreiben. Zwischen den großen Nummern fügen sich immer wieder kleine Melodien ein, die im Kern der Weiterentwicklung der Geschichte dienen. Die musikalische Linie durchziehen immer wieder eingängige Songs, die echtes Ohrwurm-Potenzial besitzen und mit viel Schwung und Energie auf die Dortmunder Bühne gebracht werden. Ob berührende Ballade oder temporeiche Ensemblenummer, die musikalische Gestaltung bietet auf jeden Fall eine große Bandbreite an, wobei ohne Frage vor allem die großen Chornummern mit besonderer Strahlkraft hervorstechen. Einzig die Abmischung darf stellenweise noch verfeinert werden, um nicht nur einen musikalischen Genuss für das begeisterte Publikum präsentieren, sondern zugleich auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Texten gewährleisten zu können.

Das Musical orientiert sich an Puccinis Oper "La Bohème" und greift viele Parallelen zu dem italienischen Werk auf. Die konkrete Ausgestaltung der strukturell ähnlichen Inhaltsbasis fällt dann jedoch ganz different aus, wobei bereits ein anderer Schauplatz für die Handlung gewählt wird. Findet sich der Zuschauer bei Puccini im Frankreich des 19. Jahrhunderts wieder, wird die Geschichte im Musical in das Amerika der 90er Jahre transferiert. Dieses der USA und ihrer Kultur eigens anhaftende Flair transportiert sich über die Inszenierung hervorragend. Bereits kleine, stimmungsvolle Gestaltungsideen vermitteln einen amerikanischen Charme und entführen das Publikum im Handumdrehen in das vorweihnachtliche East Village. 

"Rent" erzählt die Geschichte sehr diverser, charakterstarker und eigenwilliger Figuren, deren Wege sich schicksalhaft kreuzen und die gemeinsam lernen und entdecken, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Jeder Charakter bringt seinen eigenen Hintergrund, seine persönliche Geschichte und seine individuellen Sorgen mit in die figurale Verbindung, die den Wert von Freundschaft und Zusammenhalt lehrt. Die Produktion deklariert die Charaktere als symbolische Figuren für unterschiedliche Themen und Standpunkte und breitet vor dem Hintergrund einzelner schwerer Schicksalsschläge der Protagonisten eine Vielzahl von ernsten Inhalten aus. Entsprechend düster gestaltet sich grundsätzlich die Atmosphäre der Inszenierung, vergisst dabei jedoch nie den schwachen Schein einer kleinen Kerze, die manchmal ausreichen kann, um den Weg aus der völligen Dunkelheit zu finden. "Rent" widmet sich mit besonderer Nachdrücklichkeit und Stärke den zentralen Fragen des Lebens und macht dabei anhand einprägsamer Charaktere transparent, dass das Wort "Leben" immer ein Stück weit ein Paradoxon, eine Verschmelzung von Gegensätzen abbilden wird, deren Verbindung es unweigerlich braucht, um alle Farben des Bildes sehen zu können. Dunkelheit und Helligkeit sind ebenso kontrastreich verbunden wie Schicksal und Zufall. Anspannung und Entspannung wechseln sich ab, Sonnenschein und Sturm treffen aufeinander, Tag und Nacht fließen ineinander. Und all diese Gegensätze sind durch die größte Kraft, die Kraft der Liebe verbunden, die in "Rent" in besonderer Weise in den Fokus schwerer, auf den ersten Blick doch kaum zu bewältigender Schicksale gerückt wird. Der Dortmunder Inszenierung gelingt es, diese expressive, eigenwillige Geschichte von Menschlichkeit, Liebe und Leben vor einer eindrucksvollen Kulisse auszubreiten und die unterschiedlichen Figurenzeichnungen im Lichte großartiger schauspielerischer sowie gesanglicher Leistungen scheinen zu lassen.

Fotos: (c) Theater Dortmund / Thomas M. Jauk / Björn Hickmann







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