Bewegend, bildgewaltig, brillant - "Ku'damm 56", ein farbenprächtiges Meisterwerk der deutschen Musicalkunst

Durch die Ruinen der zerstörten Stadt heult der Wind, Mütter hetzen durch die Straßen mit ihren Kindern, denen bereits seit vielen Jahren eine väterliche Schulter zum Anlehnen fehlt und durch die Adern der Großstadt fließt das Blut von Tradition und Konservative, das sich mit dem leichten Duft eines Neuanfangs im leidenschaftlichen Tanz vereint. "Ku'damm 56 - das Musical" entführt das Theaterpublikum in das bewegte Berlin der Nachkriegszeit und präsentiert in künstlerischer Präzision und Leidenschaft eine phänomenale Bühnenadaption des populären ZDF-Dreiteilers, der bereits zuvor eine breite Masse an Fernsehzuschauern begeistern konnte. Nachdem das Musical bereits in der Spielzeit 2022/2023 das Berliner Publikum im Theater des Westens sprachlos zurückgelassen hat, ist der deutsche Musicalerfolg nun auf Tour zu erleben und besticht mittels ausgefeilter Inszenierung, mitreißender Musik sowie herausragender Besetzung. Die Theaterbesucher werden regelrecht in eine in aller Authentizität Gänsehaut bescherende Produktion gesogen, deren ehrliche Momente in ihrer Simplizität wie Menschlichkeit bewegen.
 
(c) Jörn Hartmann/Dominic Ernst
          
Das Musical erzählt die Geschichte einer von den Schrecken des Zweiten Weltkrieges gezeichneten Gesellschaft, die droht, zwischen politischen, familiären und generationellen Konflikten zu zerfasern. Während die ältere Generation krampfhaft bemüht ist, an traditionellen Werten und Konventionen festzuhalten, und dabei immer wieder die Zeichen einer neuen Zeit vor sich selbst verleugnet, brechen viele junge Erwachsene zunehmend mit den klassischen Rollenmustern und verstaubten Plattitüden und sehnen sich nach dem Duft von Freiheit und Zukunft. Inmitten dieser zeitgeschichtlichen Verstrickungen wächst die junge Monika Schöllack an der Seite ihrer Schwestern Helga und Eva in der familiengeführten Tanzschule "Galant" auf dem Kurfürstendamm auf. Doch im Gegensatz zu ihren Geschwistern gelingt es der Heranwachsenden einfach nicht, die Vorstellungen ihrer konservativ geprägten Mutter zu erfüllen. So sehr sich die junge Frau auch bemüht, in die Fußstapfen ihrer älteren Schwester Helga zu treten und zu einer gehorsamen, fleißigen Hausfrau heranzuwachsen, so sehr scheitert sie zugleich an ihrem Ungeschick - erwachsen aus einem gut gehüteten inneren Drang, den gesellschaftlichen Ansprüchen zu entsagen und aus dem Gefängnis des geschlechtsspezifischen Rollentypus auszubrechen. Im Tanz entdeckt Monika ihre Freiheit und löst sich an der Seite des unkonventionellen Musikers Freddy immer mehr aus dem Korsett steifer Konventionen - ganz zum Leidwesen ihrer Mutter Caterina, die sich in ihren Befürchtungen bestärkt sieht: Tochter Monika bringt nur Unheil und Schande über die eigentlich so makellose Familie Schöllack. Zum Glück gibt es da ja noch die strebsame, gut erzogene Tochter Helga sowie das in ihren Bemühungen, einen angesehenen Ehemann zu ergattern, erfolgreiche Töchterchen Eva. Doch der Schein von Moral, Harmonie und Glück täuscht wohl nirgendwo so sehr, wie im vom Leid der Nachkriegszeit zerfressenen Berlin der 50er Jahre. Auf ihrem Weg zum Erwachsensein treffen die drei Schwestern im Rahmen ihrer differenten Lebensplanungen auf ganz unterschiedliche Charaktere und Weggefährten und sehen sich vor dem Hintergrund zerplatzender Träume und fordernder Entscheidungen mit elementaren Fragen konfrontiert: Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Was bewegt mich, woran möchte ich festhalten und wofür lohnt es sich zu kämpfen - auch wenn ich dafür vielleicht meine bisherigen Vorstellungen, Erwartungen und Wünsche über Bord werfen muss?

(c) Jörn Hartmann/Dominic Ernst

Sandra Leitner glänzt in der Rolle der jungen "Monika Schöllack", die sie mit spielerischer Raffinesse ausgestaltet und dabei einen authentischen Charakter voller Stärken und Schwächen auf die Bühne bringt, der mit seiner unkonventionellen, unbeholfenen und manchmal etwas vorlauten Art in der Gesellschaft der damaligen Zeit regelmäßig aneckt und jeglichen historisch gewebten Konventionen entsagt. Anfänglich noch bemüht, den Erwartungen der konservativ geprägten Mutter zu entsprechen, begibt Monika sich doch immer mehr auf die Suche nach ihrem eigenen inneren Kern und lernt auf diesem Weg zunehmend, sich von den Fesseln des gesellschaftlichen Reglements zu befreien. Sandra Leitner präsentiert diese figurale Reise dank ihres grandiosen Schauspiels meisterlich und durchlebt in ihrer Rolle eine beeindruckende Charakterentwicklung, im Rahmen derer sich die junge Schöllack-Tochter von einem unsicheren grauen Mäuschen in eine selbstbewusste, emanzipierte Frau wandelt, die in ihren eigenen Werten verankert ist und die Fäden des weiblichen Marionettismus mit sicherem Schnitt durchtrennt. In ihrer Darbietung verbindet die Künstlerin geschickt die komödiantischen Pointen des zunächst sehr unsicher auftretenden Charakters mit einer tiefen Authentizität und Ehrlichkeit der Figurenzeichnung. Auch gesanglich überzeugt die Darstellerin auf ganzer Linie. Mit ihrem exzellent ausgebildeten Sopran präsentiert sie die ihr scheinbar auf den Leib - oder besser gesagt auf die Stimme - geschriebenen Nummern stimmstark und offenbart dabei ihr großes Talent, nicht nur hervorragend zu intonieren, sondern zugleich mit jedem Lied auch eine eigene kleine Geschichte, die eine besondere Importanz für die Charakterentwicklung besitzt, zu erzählen.

In der Rolle des charismatischen und zugleich oftmals recht kess anmutenden "Freddy Donath" begeistert Felix Freund mit einer rundum gelungenen Figurenzeichnung, in der sich künstlerisches Handwerk mit spielerischer Freude und Leichtigkeit vereinigt. Mit schauspielerischer Brillanz bringt der Darsteller eine glaubwürdige Version des freiheitsliebenden, ein wenig raubeinig daherkommenden Mannes auf die Bühne, dessen scheinbare Lässigkeit und Frechheit einem inneren Mechanismus des Schutzes entspringen. Gezeichnet von der Zeit des Nationalsozialismus, die ihm seine gesamte Familie geraubt hat, streift der junge Mann umtriebig durch die Straßen der Nachkriegszeit und versteckt seinen weichen, vulnerablen Kern hinter einer smarten, vorlauten Fassade. Felix gelingt es herausragend, die verletzliche Seite hinter eben jener Fassade immer wieder aufblitzen zu lassen und dem Publikum mittels eines sensiblen Schauspiels kleine Einblicke in das Seelenleben eines kontrastreichen Charakters zu gewähren. Gemeinsam mit Spielpartnerin Sandra Leitner lässt er herrlich erfrischende und zugleich manchmal doch gewaltig tiefgründige Interaktionen und Dialoge aufleben. In einem harmonischen Zusammenspiel kreieren die beiden Künstler zwei Charaktere, die den jeweils individuellen Kern des Anderen offenlegen und sich gegenseitig in ihren von der Norm abweichenden Wegen bestärken. 
Mit sicherer Stimme und einem wunderbar rauen Timbre führt Felix zudem ausgezeichnet durch die musikalische Linie des Stücks und rundet seine ausdrucksstarke Darbietung mit einer ebenso markanten und charakterstarken Stimme ab.

          (c) Sunstroem Musik Promotion  
         
Katja Uhlig steht als gestrenge Tanzschulbesitzerin, Hausherrin und Mutter "Caterina Schöllack" auf der Bühne und brilliert mit einer gesanglichen wie schauspielerischen Leistung, die Ihresgleichen sucht. In spielerischer Präzision zeichnet die Künstlerin eine hoch authentische Figur einer einsamen, in der Dunkelheit des Krieges verbitterten Frau, die sich in gesellschaftliche Prinzipien flüchtet und mit eisener Disziplin um ein gutes Ansehen der Familie Schöllack in den Schlingen einer Prestige-Gesellschaft kämpft. Mit viel Feingefühl entwickelt Katja Uhlig eine Figur voller innerer Stärke, die sich im Verborgenen doch zugleich danach sehnt, hin und wieder auch ein Stückchen innerer Schwäche zulassen zu dürfen. Caterina Schöllack hat alle Jugendlichkeit und Leichtigkeit in sich eingeschlossen, der frühere tänzerische Freigeist ist einem stolzen Pflichtgefühl gewichen. Die Darstellerin bewegt sich in wunderbarer Balance zwischen der äußeren Haltung und den tief verborgenen Gefühlen des Charakters, indem sie der Figur in spielerischer Exzellenz eine ganz eigene Körperlichkeit verleiht. Mimik, Gestik und Attitüde bilden eine ausdrucksstarke Linie als Spiegel der inneren und äußeren Haltungen Caterinas, die sich manchmal sehr konträr zueinander verhalten und zugleich in einem ausgezeichneten Schauspiel verschmelzen. Ihre grandiose Leistung unterstreicht Katja mit einer fabelhaften stimmlichen Präsentation, die von besonderer gesanglicher Qualität zeugt. Mit lyrisch anmutender, glockenheller Stimme und einem fein eingesetzten Vibrato ist es für die Künstlerin scheinbar ein Leichtes, den Kompositionen ihre volle Pracht zu entlocken und dem Publikum eine kollektive Gänsehaut zu zaubern.

Als eines der großen Highlights an diesem Nachmittag, das auch mit einem entsprechend frenetischen Applaus seitens der begeisterten Theaterbesucher honoriert wird, entpuppt sich Philipp Nowickis rundum herausragende Darstellung des Fabrikantensohnes "Joachim Franck", die unvergleichliche Künstlerqualitäten im Rahmen einer komplexen Rollengestaltung offenbart. Die Figur des Joachim ist vielschichtig gezeichnet und strotzt nur so vor Multidimensionalität - eine besondere schauspielerische Herausforderung, die Philipp jedoch mit scheinbarer Mühelosigkeit meistert. Mit viel Fingerspitzengefühl koloriert er einen innerlich gebrochenen Charakter, der nach dem tragischen Tod seines Bruders mit vielen Komplexen zu kämpfen hat und in der täglichen Auseinandersetzung mit seinem gefühlskalten Vater stetig Mauern um sein Herz errichtet - Mauern, die ihn eigentlich vor der emotionalen Gewalt des Verlustes, der Trauer und der Schuldgefühle schützen sollen, doch langsam aber sicher drohen, alle Liebe und Wärme unter sich zu begraben. Der Künstler konfrontiert das Publikum mit einer scheinbar kalten, distanzierten Figur und kreiert einen ganz individuellen Habitus für den gebrochenen Mann, der droht, unter den Lasten seiner sich immer stärker verengenden Welt zusammenzubrechen. Dabei lässt der Schauspieler die Figur keineswegs in einer Eindimensionalität verharren, sondern ergründet auch die eigentliche Herzenswärme und Menschlichkeit hinter den inneren Mauern. Dies spiegelt sich vor allem in der ausdrucksstarken Mimik wider, die besonders in jenen Momenten beeindruckt, in denen die Figur eigentlich nicht direkt im Rampenlicht steht. Die Verkörperung des Künstlers bedient sich dabei in ihrer Nuanciertheit aller Schattierungen des Charakters. Veredelt wird die großartige Ausarbeitung von Philipps warmer Stimme. Seine ausgezeichnete gesangliche Technik reichert der Sänger mit einer Fülle an Emotionen an, die für den Zuschauer in jeder Sekunde spürbar sind.

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Der Rolle der ältesten Schöllack-Tochter "Helga" entlockt an diesem Nachmittag Katrin Merkl ihren vollen Charme, indem sie mit sichtlicher Spielfreude und Hingabe in den Charakter eintaucht und eine beeindruckende Interpretation der Figur ausarbeitet. Mit schauspielerischem Geschick verkörpert die Künstlerin eine perfektionistische junge Frau, die stets nach den Werten ihrer Mutter strebt und sich selbst aufopfert, um die Rolle der umsorgenden Hausfrau vollumfänglich auszufüllen. In ihrem Denken und Handeln warmherzig und zugleich manchmal ein wenig gutgläubig ist Helga stets bemüht, allen familiären wie gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Mit einer liebevollen Naivität eifert die älteste Tochter dem Vorbild ihrer Mutter nach und verleugnet manchmal - zum Schutze der inkorporierten Werte und Idealvorstellungen - die Realität, die sich direkt vor ihren Augen abspielt. Katrin bringt eine sehr ambitionierte, pflichtbewusste und strebsame Figur auf die Bühne, in deren warmer Ausstrahlung der figuralen Gutmütigkeit es nicht schwerfällt, mit der jungen Frau zu sympatisieren. In aller darstellerischen Tiefe gelingt es der Künstlerin gleichsam, auch die sorgsam eingearbeiteten Pointen der Figur mit der nötigen humoristischen Farbe auszufüllen und mit kleinen Momenten der Mimik entsprechend zu spielen. Besonders transparent wird dies im Rahmen des Titels "Alles wird gut", den Katrin nicht nur phänomenal intoniert, sondern zugleich mit feinen komödiantischen Kniffen im Sinne einer begeisterten Publikumsreaktion aufwertet.

An ihrer Seite steht Isabel Waltsgott in der Rolle der jüngsten Schwester "Eva" - ein Charakter, der durch eine manchmal ein wenig stürmische, leicht naive und in aller Leichtgläubigkeit zugleich herzliche Figurenzeichnung besticht. Die Künstlerin vermag es, diesem Charakter mit spielerischer Freude eine eindrucksvolle Raffinesse zu verleihen und die vordergründige Leichtigkeit des unverblümten Wirbelwindes mit elementaren Szenen einer inhaltlichen Tiefe zu kontrastieren. Vor allem in Bezug auf die Suche nach dem verloren geglaubten Vater offenbart Isabel die Verletzlichkeit Evas, die ohne ihre väterliche Heldenfigur zu einer jungen Frau heranwachsen musste und sich bis heute nach den beschützenden Armen eines starken Wunschbildes sehnt. Ebenso authentisch gestaltet sich auch die Differenz der beiden Herzen, die in Evas Brust schlagen und dank des famosen Spiels der Darstellerin wunderbar zur Geltung kommen. Einerseits ist die junge Frau geprägt von den familiären Konventionen sowie dem frühen Verlust ihres Vaters und glaubt, in der Verbindung mit dem renommierten Professor Fassbender - ganz nach dem Geschmack ihrer stolzen Mutter - Prestige und Ansehen ebenso wie eine beinahe väterliche Vorbildfigur gewinnen zu können. Andererseits fühlt sich die junge Eva zugleich zu dem sozialistischen Maurer Rudi hingezogen, den Wolfgang Türks charmant und voller jugendlicher Leichtigkeit und Euphorie mimt. Eben jene Zerrissenheit zwischen den unterschiedlichen Sehnsüchten der jüngsten Schöllack-Tochter bringt die Künstlerin grandios zum Ausdruck. 

(c) Jörn Hartmann/Dominic Ernst

Weiterhin vermag es Patrik Cieslik die Figur des "Wolfgang von Boost" - Helgas Ehemann und angehender Jurist, der täglich mit seinen inneren Dämonen zu kämpfen hat - mit viel künstlerischer Intelligenz und einem feinen Gespür für die einzelnen Farben des Charakters zum Leben zu erwecken. Mit dem nötigen Fingerspitzengefühl entwickelt Patrik eine Figur, die stets bemüht ist, sich den gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen und zu einem treuen Ehemann für seine Gattin heranzuwachsen, doch dabei täglich einen Kampf gegen sich, seine Seele und seine verborgenen Gefühle ausfechten muss. Tief verborgen hütet der junge Mann das Geheimnis seiner wahren Liebe, das - dank der herausragenden Darstellung Patriks - mit Fortlauf der Vorstellung immer mehr an Konturen und emotionaler Farbe gewinnt. Schauspielerisch kreiert der Künstler ganz feine, intime Momente, in denen die Figur in aller Ehrlichkeit und Emotionalität erstrahlt, und lässt den Theaterbesucher mit einem innerlich zerrissenen Mann Bekanntschaft machen, dessen Herz eigentlich eine ganz eindeutige Sprache spricht, die jedoch zu der damaligen Zeit nur im Flüsterton aufbegehren durfte. Patrik schenkt der Figur eine unglaubliche Wärme und bedient sich einfühlsam der gesamten figuralen Gefühlspalette. Ebenso fantastisch wie seine visuelle Darbietung zeigt sich auch eine akustische Vortrefflichkeit, die der Künstler mit sicherer, warmer Stimme heraufbeschwört. Vor allem im Rahmen des Liedes "Ein besserer Mensch" gelingt es dem Sänger, musikalische Schönheit mit emotionaler Ehrlichkeit zu verbinden und die unter dem Songtext schwelenden Emotionen transparent werden zu lassen. 

Jerry Marwig weiß mit seiner spielerisch attraktiven Interpretation des Tanzlehrers "Fritz Assmann" zu begeistern, die er mit viel Charme und Charisma anreichert. Galant wirbt er immer wieder um die Hand seiner großen Liebe Caterina, die ihn jedoch mit scharfer Zunge abblitzen lässt. Insbesondere in diesem Zusammenspiel des ungleichen Paares gelingt es dem Künstler hervorragend, die feinen komödiantischen Pointen dieser Interaktion auszuspielen und dem Charakter dabei eine herrliche Raffinesse zu verleihen. Es ist ein großer Genuss, der spielfreudigen Darbietung zu folgen, und dank der Leichtigkeit, mit der Jerry versiert durch die unterschiedlichen Momente der Figur steuert, kann der Zuschauer die Augen kaum von dieser schauspielerischen Pracht abwenden, die Ernsthaftigkeit eines standhaften Charakters mit feiner Situationskomik verbindet. Spielerisch bedient sich Jerry sowohl einem humoristischen Feingeist als auch einer inhaltlichen Tiefe einer Figur, deren bewegte Vergangenheit auch in der Gegenwart noch markante Spuren zieht. Eine satte, ummantelnde Sprech- wie Singstimme komplettiert die faszinierende Darstellung, mit der der Künstler einen Charakter, der eigentlich mehr am Rande des Geschehens steht, immer wieder geschickt in den Fokus des Rezipienten bringt.

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Joachims hartherzigen, verbitterten Vater "Otto Franck" mimt Rudi Reschke mit schauspielerischer wie gesanglicher Brillanz und setzt dabei seine unvergleichliche Bühnenpräsenz geschickt ein, um einen ausdrucksstarken Charakter aufleben zu lassen, dessen Härte und emotionale Kälte das Publikum doch immer wieder erschaudern lassen. Im Gegensatz zu seinem sensiblen Sohn Joachim hat Otto Franck alle Wärme aus seinem Herzen verbannt und tritt als strenger Vater und tüchtiger Geschäftsmann auf, der sich weder in familiärer noch in beruflicher Hinsicht von "Gefühlsduselein" leiten lassen will. So entreißt er sich auch den Fesseln der tragischen Vergangenheit, die das Leben seines zweiten Sohnes Harald kostete, und wagt keinen Blick zurück auf den dramatischen Verlust, der an seiner eiskalten Schale rütteln könnte. Rudi Reschke glänzt mit seiner präzisen und scharfsinnigen Darbietung eines autoritären Charakters, der sich in dem Glauben an eine männliche Macht absolut chauvinistisch zeigt und ebenso gebieterisch über das weibliche Geschlecht wie über den seiner Meinung nach versagenden Sohn wacht, dessen vulnerable Seite Otto Franck ein Dorn im Auge ist. Künstlerisch variabel präsentiert sich der Darsteller jedoch in den zu seiner Hauptrolle völlig konträren Momenten des "Heiner Schöllack", in denen Rudi mit scheinbarer Mühelosigkeit in das humoristisch gezeichnete Gewand eines trampelig-lüsternen Charakters schlüpft.

Der Rolle des "Professor Fassbender" haucht Martin Haberger mit künstlerischem Geschick und schauspielerischer Souveränität Leben ein und kreiert damit das glaubwürdige Abbild eines angesehenen Nervenarztes, der ein besonderes Renommée genießt, jedoch die Auswüchse seiner dunklen Vergangenheit zur Aufrechterhaltung des vordergründig tadellosen Rufes stets im Verborgenen bewahren muss. Obwohl die Figur in ihren Konturen recht kalt und nüchtern wirkt, lässt der Künstler in sein Schauspiel hin und wieder auch überraschend menschliche Züge einfließen, die er mittels minimaler Nuancen in Mimik und Auftreten einarbeitet, doch diese in das entsprechende Gleichgewicht zu dem in seiner Fassade abgeklärten Charakter bringt. Äußerst harmonisch präsentiert sich das Zusammenspiel mit Bühnenpartnerin Isabel Waltsgott. Gemeinsam präsentieren die beiden Künstler dem Publikum eine ab und an doch sehr humoristisch angelegte Annäherung der jungen Eva, die in ihrer Naivität versucht, den Professor mit gefährlichem Halbwissen zu beeindrucken und dabei gerne einmal ins Fettnäpfchen tritt. 

           (c) Sunstroem Musik Promotion

Abgerundet wird die Cast an diesem Nachmittag von Vanessa Wilcek, Faye Bollheimer, Florentine Beyer, Marco Billep, Lars Wandres und Timo Stacey, die die Vorstellung mit ihrer stimmlichen Stärke sowie spielerischen Hingabe und Bühnenausstrahlung erst komplettieren. So weiß Letzterer beispielsweise als "Mutter Brause-Sänger" mit einer unglaublichen gesanglichen Wucht und einer damit verknüpften Range, die Timo in allen Oktaven exzellent auszufüllen vermag, zu beeindrucken. "Ku'damm 56" ist eine Ensembleleistung, deren Geist sich in jeder Minute auf der von versierten Künstlerinnen und Künstlern bespielten Bühne offenbart. Mit einer gehörigen Portion spielerischer Freude wirbelt die Cast über die Bretter, die die Welt bedeuten, und füllt dabei jede noch so kleine Rolle mit künstlerischer Intelligenz aus. Hierbei wird großer Wert auf die Detailliertheit der Charakterzeichnungen gelegt, sodass in mühevoller kreativer Kleinstarbeit multidimensionale Figuren entstehen, die in ihrer Unvollkommenheit hohes Identifikationspotenzial für den Rezipienten bergen. 

Das Buch aus der Feder von Annette Hess greift die unterschiedlichen Ausgangspunkte und Lebenssituationen der Charaktere wunderbar auf und vereint diese in einem großartigen stofflichen Gesamtwerk, das durch Authentizität und Komplexität zu begeistern weiß. Figurale Verwicklungen (auch wenn man doch lieber tanzen als sich verwickeln möchte ;-)) und Konflikte werden großartig thematisiert und dabei geschickt in eine vielschichtige Geschichte eingewoben. Teils nur angerissen, teils mit inhaltlicher Tiefe gefüllt, kommen hier die großen und kleinen Sorgen einer different gezeichneten Riege an Figuren buchbedingt stark zum Ausdruck und verflechten sich mit dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Nachkriegszeit zu einem fulminanten Gesamtwerk, das sich bildlich wie sprachlich zwar zahlreicher symbolisch aufgeladener Kniffe bedient, jedoch trotz aller künstlerischer Feinheiten in erster Linie durch eine hoch authentische Färbung besticht. 

(c) Sunstroem Musik Promotion

Die Musik von Peter Plate und Ulf Leo Sommer entpuppt sich in ihrem Facettenreichtum und ihrer handwerklich grandiosen Architektur als wahrer Geniestreich. Von fetzigem Rock'n'Roll über poppige Melodien bis hin zu lyrisch eingefärbten Tönen - die musikalischen Arrangements der Produktion spielen mit den unterschiedlichsten Klängen und verbinden diese zu einem akustischen Gemälde, in das eine Vielzahl von Farben, Formen und Details einfließt. Musikalisch kraftvoll präsentiert entfalten die Songs eine ansteckende Energie, die sich sogleich auf die Besucher im Zuschauersaal überträgt. Besonders prägnant erscheint hierbei die Qualität der musikalischen Linie, in aller akustischen Ästhetik und Fulminanz primär als Werkzeug der stofflichen Vermittlung zu dienen. Jedem Lied wohnt eine eigene Bedeutung inne, die die Handlung inhaltlich vorantreibt bzw. dem Publikum dank fantastisch gewählter  bildlicher Songtexte tiefe Einblicke in das Seelenleben und die darin beheimateten Schatten einzelner Protagonisten gewährt. Zudem gestalten sich die großen Ensemblenummern in ihrer akustischen Stärke schwungvoll wie mitreißend und hinterlassen bei dem Zuschauer einschlägige Ohrwürmer, die von der Eröffnungsnummer "Monika" bis zur großen Zugabe "Berlin, Berlin" reichen. Die sechsköpfige Band spielt unter der Leitung von Caspar Hachfeld kraftvoll wie dynamisch auf und entlockt den Kompositionen so ihre volle Größe.

Das Bühnenbild der Produktion präsentiert sich ebenso schlicht wie wirkungsvoll. Auf opulente Kulissen wird im Sinne der Fokussierung auf Geschichte, Figuren und Emotionen verzichtet. Entsprechend der tristen Nachkriegszeit bildet der graue Gerüstbau den visuellen Rahmen der Inszenierung ab und transportiert eine die Welt zu dieser Zeit bestimmende Eintönigkeit und Dunkelheit. Das Bühnenbild ist auf mehreren Ebenen bespielbar und wird hier vor allem ganz geschickt eingesetzt, um zur gleichen Zeit Einblicke in die drei differenten Leben der Schöllack-Schwestern zu gewähren. Diese Mehrdimensionalität der Kulisse erweist sich als äußerst sinnvoll für das Zusammenspiel der stark besetzten Charaktere, denn auch in jenen Momenten, in denen eigentlich nur eine Figur im Zentrum des visuellen Interesses steht, eröffnen sich für weitere Darsteller die Räume, ebenso ihre Charaktere im Hintergrund weiter zu entwickeln und dank feiner Mimik und Gestik neue Expressionen in das Figurengeflecht einzuweben. Besonders gelungen präsentiert sich weiterhin der Einsatz einer großen Spiegelfläche an der Decke, die je nach Bedarf heruntergelassen werden kann. Dieses bühnentechnische Element dient nicht nur der optischen Ästhetik, sondern transportiert vielmehr auf symbolischer Ebene den Subtext einzelner Szenen. Insbesondere das Gefühl der Figuren, eingeengt oder emotional erdrückt zu werden, kann dank dieser wirkungsvollen Spiegelinszenierung wunderbar visualisiert werden. Auch auf Tour wurde auf diese schlichten und zugleich ausdrucksstarken Bühnenelemente nicht verzichtet, sodass sich ein einprägsames Gesamtbild ergibt. 

           (c) Jörn Hartmann/Dominic Ernst

"Ku'damm 56" statuiert ein Exempel für eine authentische, mutige und qualitativ hochwertige deutsche Musicalproduktion, im Rahmen derer künstlerisches Handwerk auf emotionale Tiefe trifft. Auch auf Tour hat das Stück nichts an Charme und Genialität eingebüßt, ganz im Gegenteil: Einige Charaktere wurden in der Zwischenzeit scheinbar noch stärker und nuancierter ausgefeilt. Das Musical inkludiert eine bunte, rundum stimmige Mischung aller Dimensionen, die es für solch eine gewaltige Produktion braucht, und scheut nicht davor zurück, schwierige Themen explizit anzusprechen - sei es auf kommunikativer oder auch visueller Ebene. Die Show lebt von einer unglaublichen Tiefgründigkeit, die sich jedoch mit einem herrlichen Humor, der ganz fein eingestreut wird, zu einem energetischen Meisterwerk vereint. Besonders ist hierbei, dass die Inszenierung von Regisseur Christoph Drewitz und seinem künstlerischen Team in ihrer Balance aus Zeitgeist und Zeitlosigkeit alle Generationen im Theatersaal zusammenführt und Jung wie Alt gleichermaßen zu bewegen vermag. Berührend, auf sprachlicher wie choreografischer Ebene bildgewaltig und brillant - diese Alliteration beschreibt "Ku'damm 56" in wenigen Worten und kann dennoch nur erahnen lassen, welche Exzellenz sich hinter dieser Inszenierung verbirgt, die mit großer Kraft ganz kleine, teils sehr intime Momente ins Scheinwerferlicht rückt und das Theater in einen Ort voller Emotionen, voller Tiefe, ja, voller Leben verwandelt.

(c) Dominic Ernst 


 


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