Let the sunshine in - emotionale Reise in die bunte Hippie - Zeit

Als diese revolutionäre Show vor genau 50 Jahren erstmalig auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu erleben war, brach in vielen Zuschauern das Gefühl von Verwunderung und Empörung aus. Nun, ein halbes Jahrhundert  später, ist es vielmehr Bewunderung, Begeisterung bis hin zu dem unbändigen Gefühl von Freiheit, das sich in den Köpfen und den Herzen des Publikums breit macht. "Hair" wurde bereits in den unterschiedlichsten Inszenierungen auf unzähligen Bühnen dieser Welt gezeigt und gehört ohne Frage zum Kult der Musicallandschaft.
In diesem Sommer wagten sich die Bad Hersfelder Festspiele an dieses unkonventionelle Stück und erarbeiteten ihre ganz persönliche Version für die Bühne der Stiftsruine. Mit ihrer eigenen Interpretation des Musicals sorgten Darsteller und Kreativteam für Enthusiasmus und gleichzeitig für Nachdenklichkeit beim Publikum und ernteten dafür vollkommen berechtigt tosenden Applaus.

Foto (c) Bad Hersfelder Festspiele 

Die Geschichte bewegt sich in der Zeit des Vietnamkriegs und spiegelt in erster Linie das Lebensgefühl der 68er Bewegung wider. Von den Träumen und Sehnsüchten vieler junger Amerikaner bis zum Leid und zur Ablehnung, welche diese revolutionären Heranwachsenden damals erfahren mussten, kreiert das Stück ein facettenreiches Bild des konservativen Amerikas, in dem sich aber unterschwellig ebenso eine Aufbruchstimmung entwickelt. 
Im Mittelpunkt der Handlung steht der junge "Claude", der gemeinsam mit seinen Freunden aus ganzer Überzeugung für Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit in einer Zeit voller Hass, Krieg und Gewalt, kämpft. Als ihn eines Tages seine Einberufung für den Dienst im Krieg erreicht, muss er sich entscheiden: Verweigert er den Dienst, stellt sich somit endgültig gegen die Regeln des Staates und riskiert mit dieser Haltung eine Gefängnisstrafe ? Oder gehorcht er der Regierung und den Vorstellungen seiner konservativen Eltern, unterwirft sich dem System und riskiert sein Leben im Krieg ?Während seine Eltern sich wünschen, dass endlich ein "richtiger Mann" aus "Claude" wird, versucht vor allem sein bester Freund "Berger" zu verhindern, dass der junge Mann seine Wertvorstellungen, für die sie gemeinsam so lange schon eingetreten sind, mit einem Mal einfach über Bord wirft. In einer inneren Zerrissenheit zwischen den Gesetzen des Staates und seinen eigenen Prinzipien, muss "Claude" eine Entscheidung treffen.


Wie schon bei der ersten Musicalproduktion der diesjährigen Festspielsaison , "Titanic", stand auch bei "Hair" wieder ein erstklassiges Ensemble auf der Bühne, welches die Zuschauer mit einer unbändigen Spielfreude in die flippigen Zeiten des "Hippie-Daseins" im eigentlich doch konservativen Amerika entführte. 

Die Rolle des "Claude" wurde von Christof Messner verkörpert, dem es mit viel Fingerspitzengefühl scheinbar mühelos gelang, dem Publikum die ambivalente Gefühlswelt dieses Charakters  zu offenbaren. An dem inneren Konflikt, der sich für "Claude" nach dem Eintreffen der Einberufung zum Militärdienst entwickelt, ließ der Darsteller die Zuschauer dank seines unglaublich ehrlichen und realistischen Schauspiels intensiv teilhaben und durchlebte so die einzelnen Stationen im Leben des jungen Mannes mit besonderer Hingabe.

Ein weiteres Highlight der Inszenierung war ohne Zweifel Riccardo Greco, der in der Rolle des zielstrebigen und idealistischen Pazifisten "Berger" begeisterte. Obwohl der Darsteller mit seiner kräftigen und rockig angehauchten Stimme die Zuschauer in allen Ensembleszenen mühelos mitreißen konnte, glänzte Riccardo ebenso mit seiner Interpretation der erst auf den zweiten Blick vorhandenen Melancholie der Rolle. Während er "Berger" anfangs noch durchweg lebensfroh, sorgenlos, ja, im positiven Sinne fast ein wenig verrückt erschienen ließ, durchlebte er innerhalb seiner Figur vor allem im zweiten Akt eine große Entwicklung und zeigte, dass hinter der unerschütterlichen Fassade des Hippies noch viel mehr steckt. Riccardo kämpfte als "Berger" nicht nur um Freiheit und Frieden, er kämpfte vielmehr noch um seinen Freund "Claude" und sorgte mit einem tiefen Einblick in das innere Chaos auch im Zuschauerraum für einen hohen Identifikationsfaktor. 


Bettina Mönch stand als junge "Sheila" auf der Bühne, die besonders durch ihre Musik und die dadurch entfachte Euphorie für den erwünschten Frieden kämpfte. Bettina konnte  vor allem mit ihrer klaren kraftvollen  Stimme im Solovortrag punkten. Mit ihrem Song "Easy to be hard" verursachte die Sängerin  Gänsehaut beim Publikum und sang sich mit ihrer emotionsgeladenen Darbietung in die Herzen der Zuschauer. 

Die Rolle der schwangeren "Jeanie" wurde von Martina Lechner gespielt, die diese Figur ebenso wie ihre Bühnenpartner sehr authentisch mit Leben füllen konnte. Auch sie zeigte sowohl die flippig - rockige Seite als auch die manchmal ein wenig zurückgenommenen emotionalen Züge des Charakters und verlieh diesen mit ihrem facettenreichen Schauspiel Ausdruck. 


Eine weitere Dame, die in jedem Fall erwähnt werden muss, ist Kerstin Ibald, die dank ihres brillianten Gesanges ganz besonders in der Rolle der "Liz Taylor" glänzen konnte. Mit ihrer glasklaren, klassisch angehauchten Stimme bildete sie in der Show einen deutlichen Kontrast zu all den schwungvollen rockigen  Songs, die dieses Stück dominieren und konnte nicht nur dank ihres eindrucksvollen gesanglichen Auftritts, sondern auch mittels ihrer großen Bühnenpräsenz die Blicke der Zuschauer auf sich lenken.

Ebenfalls sehr eindrucksvoll war die überragende gesangliche Qualität, welche Gina Marie Hudson in der Rolle der "Dionne" präsentierte. Sie war dank ihrer fantastischen Stimme, die von einem hohen Wiedererkennungswert geprägt ist, ein unverzichtbarer Teil der Inszenierung, der die Show um zusätzliche Energie und sichtbare Spielfreude bereicherte.  


"Hair" ist zweifelsohne eine Produktion, welche neben der ohrwurmlastigen Musik definitiv von der Präsenz und Harmonie des gesamten Ensembles lebt. Daher kann man sich sehr sicher sein, dass die Bad Hersfelder Inszenierung nicht das große Gesamtwerk hätte werden können, welches nun auf der Bühne zu bewundern war, wenn nicht ein solch spielfreudiges Ensemble über die Bühne gewirbelt wäre. Hier wurde man Zeuge einer Inszenierung, welche von einer extremen Stimmgewalt und gesanglichen Präsenz eines jeden Darstellers gekennzeichnet war.

Neben den eingängigen und allseits bekannten Liedern, die den musikalischen Rahmen des Musicals bilden, verliert auch die Thematik des Stücks keinesfalls an Aktualität - ganz im Gegenteil, wahrscheinlich sind die Inhalte dieser Show heute aktueller als zuvor. Mag man auf den ersten Blick auch denken, dass sich der Zeitgeist gewandelt hat, erkennt man doch schnell, dass sich in mancher Hinsicht Parallelen zwischen den thematisierten  Konflikten innerhalb der amerikanischen Gesellschaft zur Zeit des Vietnamkriegs und den Rissen, die sich durch heutige Gesellschaftsschichten ziehen, finden lassen. 


Natürlich ist die Produktion unglaublich attraktiv für all diejenigen, welche die Umstände der damaligen Zeit hautnah miterlebt haben, doch auch für die jüngere Generation ist die Show nicht minder spannend. Auf mitreißende und schwungvolle Weise erzählt "Hair" ein Stück Zeitgeschichte und macht es somit wieder ganz präsent in den Köpfen der Zuschauer. Diese Bühnenfassung beweist einmal mehr, warum Musicals ein bedeutendes künstlerisches Genre sind und zur Identitätsfindung beitragen. Musicals bieten dem Zuschauer die Möglichkeit,  in fremde Welten und vergangene Zeiten einzutauchen und das Vergessen der Erlebisse unserer Mitmenschen und Vorfahren zu verhindern, denn wie heißt es schließlich: Das schlimmste Verbrechen an der Erinnerung ist das Vergessen. 
Mit vielen Nuancen ist es dem Team im wunderschönen Bad Hersfeld gelungen, den Besuchern diverse Bilder und Eindrücke der Hippie-Jahre zu vermitteln und sich gemeinsam mit ihnen auf eine eindrucksvolle Reise zu begeben. Kostüme, Requisiten, Songs - jedes Element vermittelt mit einem besonderen Charme den damaligen Zeitgeist. Natürlich muss man betonen, dass die Handlung gerade zu Beginn der Vorstellung möglicherweise ein wenig befremdlich oder unverständlich auf die jüngere Generation wirken kann, sich aber eben auch dieser eine unterhaltsame Reise der besonderen Art bietet, die durchaus dazu geeignet ist, den eigenen Horizont zu erweitern.


Der Fokus des Stücks liegt ganz bewusst nicht auf den einzelnen Geschichten der Charaktere, im Mittelpunkt steht vielmehr das allumfassende Lebensgefühl der Revolution gegen das Establishment und das Fundament der sogenannten "Hippies".
"Hair" spricht auch noch heutige Tabu - Themen ganz offen an, von der kompletten Entkleidung in der Öffentlichkeit, über exzessiven Drogenkonsum bis hin zur Freiheit der Sexualität. 
Innere Freiheit finden, Zwänge bekämpfen und in Frieden in einer heterogenen Gemeinschaft leben, dafür kämpfen die Charaktere und zwar nicht mit Waffen und Gewalt, nein, mit rockigen Songs, einem schrillen und ausgefallenen Kleidungsstil, friedlichen Demonstrationen und ganz viel Lebensfreude. 
Leider ist die Spielzeit in diesem Jahr schon wieder vorbei, doch in jedem Fall können wir hoffen und die Daumen drücken, dass dieser Musicalerfolg auch in Zukunft einmal wieder die Bühne der Stiftsruine erobern wird. Die Show ist eine Hommage an die Menschen, die damals gegen all die Ungerechtigkeit gekämpft und ihre Nächstenliebe gelebt haben und ein Genuss an ehrlichen Emotionen für das heutige Publikum. Zugleich ist es natürlich auch ein Wegweiser in der modernen Gesellschaft für Nächstenliebe, Akzeptanz und ein friedliches Miteinander einzustehen und die Freude am Leben trotz aller berechtigter Sorgen niemals zu vergessen: Let the sunshine in!

Fotos (c) Hersfelder Zeitung

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