Emotionale Reise in die Vergangenheit - Auf den Spuren der Zarentochter Anastasia

Im November 2018 ist die junge Zarentochter "Anastasia" in das Stage Palladium Theater eingezogen, zumindest laut Berichten von Augenzeugen, die die totgeglaubte Frau auf den russischen Straßen, die aktuell durch das Stuttgarter Theater führen, erkannt haben wollen... Aber wie kann dies möglich sein, hatten doch die Kommunisten eigentlich alle Mitglieder der Zarenfamilie in einem revolutionären Schritt ermordet?! 
Nun liegt dieses Ereignis schon mehr als 100 Jahre zurück und doch leben die Mythen um das mögliche Überleben der Zarentochter auch heute noch immer wieder auf. Die neue Produktion Stage Entertainments wandert nicht nur auf den historischen Spuren der jungen Frau, nein, sie ermöglicht eine magische Reise, die Vergangenheit, Gegenwart und auch ein Stückchen Zukunft vereint...


Das in St. Petersburg lebende Waisenmädchen Anya hat keinerlei Erinnerungen an ihre Vergangenheit. Völlig eingeschüchtert in einem Krankenhaus aufgewacht, kennt sie weder ihren richtigen Namen noch verbindet sie irgendwelche Erinnerungen mit ihrer Kindheit. Jegliche vergangene Momente scheinen aufgrund einer schweren Amnesie in ihrem Kopf ausgelöscht und so muss die junge Frau, ohne ihre Wurzeln zu kennen, ein ganz neues Leben im von Umbruch geprägten Russland beginnen. Trotz dieses schweren Schicksals und der Kälte, die ihre Heimat offenbart, kämpft Anya Tag für Tag. Doch die Fragen in ihrem Kopf wollen einfach nicht verblassen: Wer bin ich? Wo komme ich her? Welcher Weg liegt hinter mir und welche Menschen waren Teil dieser Reise, die nun unwiderruflich der Vergangenheit anzugehören scheint? Und so begibt sie sich auf die Suche nach ihrer wahren Identität. Ihr Weg führt sie zu "Dimitri" und "Wlad", zwei Betrügern, deren Leben von vielen zerplatzten Träumen bestimmt ist und die nun gemeinsam einen Plan aushecken, um ihrer Armut ein wenig entgegenzuwirken. Seit im Jahre 1918 die Zarenfamilie Romanow von den Bolschewiken im Zuge eines revolutionären Umbruchs ermordet worden ist, wird das Land nun von der Vorstellung des Marxismus regiert. Jedoch kursiert in den Straßen der Stadt das Gerücht, dass die junge Zarentochter Anastasia das scheinbar Unmögliche geschafft und den Angriff überlebt habe. Dimitri und Wlad beschließen, mit einer fremden Frau eine Abbildung der Zarentochter zu verkörpern und ihnen so einen Gewinn einzubringen, denn die in Paris lebende Zarenmutter hat eine große Belohnung für diejenigen ausgesetzt, die ihr ihre geliebte Enkeltochter zurückbringen können. Dabei kommt ihnen die verzweifelte Anya auf der Suche nach ihrem wahren "Ich" gerade recht. Voller Verunsicherung lässt sie sich auf den Plan der beiden Männer ein, in der Hoffnung mehr über ihre persönliche Geschichte in Erfahrung bringen zu können. Während sie von den beiden Russen Unterricht in diversen Fächern erhält, um die Historie der jungen Zarentochter zu studieren, fügen sich in ihrem Kopf immer mehr Puzzleteile zusammen und es entsteht eine unglaubliche Vermutung: Könnte Anya vielleicht tatsächlich die totgeglaubte Anastasia sein? Könnte sie ihre vergessene Vergangenheit tatsächlich im Jussopow - Palast verbracht haben? Jeder Tag, der verstreicht, scheint mit neuen Anhaltspunkten diesen Verdacht zu erhärten, wonach Anya nicht die Geschichte und Persönlichkeit einer fremden Frau studiert, sondern ihren ganz eigenen Weg noch ein zweites Mal geht. Doch nicht allen Bewohnern Russlands zu Zeiten des Umbruchs gefällt das Gerücht, eine Romanow könnte überlebt haben und so beginnt für Anya nicht nur eine gefährliche Reise nach Paris, sondern auch in ihre Vergangenheit, die gleichzeitig Schlüssel für Gegenwart und Zukunft zu sein scheint.



Stage Entertainment hat mit dieser Inszenierung eine einzigartige Neuerscheinung für das Stuttgarter Publikum auf die Bühne gebracht. "Anastasia" ist ein Musical voller Magie, das die Historie Russlands mit der Atmosphäre einer Märchenwelt verbindet. Getragen wird die Show in erster Linie von absolut ausdrucksstarken und stimmgewaltigen Darstellern, die all ihre Rollen mit viel Feingefühl und Verständis für den einzelnen Charakter zum Leben erwecken.

An diesem Abend stand Alexandra Alexandrova in der Rolle der jungen "Anya" auf der Bühne und begeisterte die Zuschauer sowohl mit einem brillianten und absolut sicheren Gesang als auch mit einem sehr authentischen Schauspiel, das dem Publikum sogleich die Tore zum Herzen der Figur öffnete und sie in ihre Welt eintauchen ließ. Dem Zuschauer gelingt es mühelos, sich mit der Rolle und all ihren Ängsten und Sorgen zu identifizieren, da Alexandra in jeder Szene ihre gesamten Gefühle in die Rolle legt und so immer wieder ihre Zerrissenheit und Verunsicherung aufgrund ihres prägenden Schicksals für die Zuschauer transparent macht. So bringt die Künstlerin mit ihrer Ausstrahlung eine starke Kämpfernatur auf die Bühne, die trotz ihrer Standhaftigkeit auch immer wieder eine ehrliche Zerbrechlichkeit aufblitzen lässt und so vor allem von Menschlichkeit dominiert wird.

Milan van Waardenburg verkörpert den Charakter "Dimitris", der in diesem Stück ebenso wie Anastasia eine große Entwicklung durchlebt. Mit viel Verständis für die zunächst tief verborgen liegende Sensibilität entwickelt Milan aus dem anfangs von einer harten Schale ummantelten Charakter einen von Liebe erfüllten jungen Mann, der erkennt, das Geld und Reichtum allein einen Menschen nicht glücklich machen. Gemeinsam mit den Zuschauern lernt Milan in seiner Rolle den Wert wahrer Liebe kennen. Der Darsteller harmoniert perfekt mit seiner Spielpartnerin Alexandra und gemeinsam spannen die beiden einen authentischen Bogen durch die gesamte Handlung. Vor allem die Entwicklung der zunächst in den Herzen der Figuren verborgenen Vertrautheit und Nähe zueinander lässt das Bühnenpaar emotionsgeladen aufleben und entführt die Zuschauer somit auf eine romantische und herzergreifende Reise.


Die Rolle der Zarenmutter "Maria Fjodorowna Romanowa" wurde an diesem Abend von Susanna Panzner interpretiert, die vor allem schauspielerisch eine wahre Meisterleistung auf die Bühne zauberte. Auch sie durchlebt in der Rolle eine starke Wandlung und beweist, dass sie sowohl neben dem anfänglichen Misstrauen der Zarenmutter, die die Suche nach ihrer Enkelin aufgrund der an ihrer Kraft zehrenden Begegnungen mit zahlreichen Betrügern, aufgeben möchte, auch die weichen und herzlichen Facetten der Figur mühelos ausarbeiten und den Zuschauern nahebringen kann. In der Entwicklung der Figur scheint die Künstlerin vollkommen aufzugehen und den schweren Weg der Zarenmutter mit all seinen "Abzweigungen" in Fülle und mit einer bewundernswerten Authentizität ausleben zu können.

Mathias Edenborn begeistert das Publikum mit seiner Darstellung des "Gleb", der in einer von Kommunismus geprägten Familie aufgewachsen ist und dessen Vater ein entscheidender Teil des Ermordungskommandos der Romanows war. Als die Gerüchte um die noch lebende Zarentochter "Anastasia" in Russland ihre Runde machen, beginnt für den jungen Kommunisten ein schwieriger Kampf, der ihn in einen Konflikt zwischen politischer Überzeugung und Menschlichkeit führt. Mathias macht neben Glebs Drang, die Tat seines Vaters zu vollenden und für den Kommunismus einzustehen, auch seine Zuneigung zu der jungen Anya, die nicht durch politische Maxime zerstört werden kann, sehr deutlich und präsentiert so den in einem absoluten Gefühlschaos mündenden inneren Konflikt. Die Herausforderung, sich in die gegensätzlichen Herzen, die in Glebs Brust schlagen, hineinzuversetzen, meistert Mathias mit Bravour und sorgt somit allein dank seiner Kunst, die Emotionen der Rolle offenzulegen, für viele Momente, die von wahren Gefühlen und dem Zauber, den Theater ausmacht, dominiert werden. Untermauert wird sein ausdrucksstarkes Spiel von einer das Stück prägenden Stimme, die mit Gefühl und Stärke die Ambivalenz des Charakters auch musikalisch aufzeichnet.


Ein Publikumsliebling ist sicherlich Jacqueline Braun, die als Gräfin "Lily" mit Humor und Witz das Geschehen auflockert und in von einer dunklen Atmosphäre dominierten Szenen auch immer wieder Funken der Freude und Lebendigkeit aufblitzen lässt. Gerade dank ihres Feingefühls für den komödiantischen Charme der Rolle balanciert sie das die Darbietung oftmals umrahmende Gefühl von Melancholie und Tragik gekonnt aus und wird schlussendlich zu Recht mit einem tosenden Applaus belohnt.

Ihr Spielpartner Thorsten Tinney steht der energiegeladenen Künstlerin in nichts nach und formt gemeinsam mit ihr ein die Bühne für sich einnehmendes Paar. Mit einer den gesamten Zuschauersaal ergreifenden Präsenz sowie stimmgewaltigen Gesangseinlagen beweisen die beiden Darsteller, dass man eine optimalere Besetzung für die Charaktere nicht hätte finden können und befördern einen für das Stück ganz neuen und wünschenswerten Charme in die Inszenierung.


Neben den Hauptdarstellern und Kinderdarstellerin Yade ermöglichen auch die Mitglieder des Ensembles anhand von mit Präzision dargebrachten Choreografien, die diverse Richtungen des Tanzes vereinen, und mit harmonischen Chorgesängen, die die Solopartien der Hauptdarsteller stützen, eine märchenhafte Ausarbeitung der auf einer Mischung aus Historie und Fiktion beruhenden Vorlage.

Neben charismatischen und aus dem Leben gegriffenen Figuren, denen perfekt besetzte Darsteller allabendlich Leben einhauchen, setzt die Produktion besonders in puncto Kostüm und Bühnenbild ein dickes Ausrufezeichen in der Welt des Musicals. Die immer wieder eingebundenen Projektionen werden dank Ergänzung durch kleine Details am Bühnenrand immer wieder aufs Neue gekonnt in Szene gesetzt und ermöglichen dem Zuschauer eine mühelose Verfolgung der Reise "Anyas" aus dem kalten Russland in das dagegen warm und einladend wirkende Paris. Vor allem das dabei ausgearbeitete Farbkonzept schafft eine an die jeweilige Szene und den Spielort angepasste Atmosphäre und beweist, mit welch simplen Ideen das Theater in magische Reiseziele verwandelt werden kann.
Wallende Gewänder und funkelnde Kleider mit meterlangen Schleppen lassen nicht nur Prinzessinen - Träume wahr werden, sondern spiegeln auch den gesellschaftlichen und historischen Status der Zarenfamilie wider. Auch symbolisch haben die Kostüme des Öfteren eine wichtige Kraft für die einzelnen Charaktere, so beispielsweise auch für die in der Amnesie gefangene "Anya" die nicht zuletzt dank solch kleiner Details den möglicherweise in ihr verborgenen Kern der Zarentochter erkennt.


Nicht nur für das Auge, nein, auch für die Ohren wird im Palladium Theater ein wahres Geschenk präsentiert. Die verworrene Geschichte ist musikalisch in eine Reihe von an die Gefühlslagen der einzelnen Rollen angepassten Liedern eingebettet worden, die den Zauber der Vorstellung komplettieren. Manche Lieder gehen sofort ins Ohr, manche jedoch aufgrund des Facettenreichtums und der Komplexität auch erst nach einer Wiederholung.

Insgesamt wurde mit der Produktion "Anastasia" ein sowohl auf musikalischer als auch auf visueller Ebene zauberhaftes, einem Märchen gleichendes Kunstwerk geschaffen, das Jung und Alt zu einer spannenden und emotionsgeladenen Reise einlädt. Immer wieder ist versucht worden, Spannung und Tragik mit Romantik  und großen Gefühlen zu vereinen. Ein kleiner Kritikpunkt meinerseits stellt hierbei lediglich der eigentliche Höhepunkt der Beziehung zwischen Gleb und Anya dar, der das gesamte Stück über aufgebaut, jedoch letztlich nicht in möglicher Fülle ausgearbeitet wird. Ich hätte mir gewünscht, den Konflikt der beiden jungen Menschen und ihre letzte gemeinsame Begegnung in Paris etwas ausdrucksstärker und detaillierter aus zu erzählen.

Ansonsten wurden die Vorlage und die persönlichen  kleinen Hintergrundgeschichten der einzelnen Charaktere maximal ausgeschöpft und mit einer absoluten Perfektion, die jedoch genug Raum für Wahrhaftigkeit und Emotionalität lässt, zum Leben erweckt. Lasst euch von der Magie dieser Show verzaubern und begleitet "Anya" auf einer Reise in die Vergangenheit, die nicht nur so manche Überraschung bereithält und den Alltag versüßt, sondern auch zeigt, was im Leben wirklich zählt, denn mit einem besonderen Menschen an seiner Seite lassen sich all die bunten Momente im Leben doch viel besser teilen und genießen: Geld ist nicht alles. Zusammenhalt, Freundschaft und Liebe sind der wahre Zauber des Lebens und diesen wird man bei einem Besuch des Stuttgarter Palladium Theaters noch einmal ganz neu ergründen lernen.

Fotos 
(c) Johan Persson

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Große Emotionen im Sherwood Forest - Mit Robin Hood kommt eine neue Zeit des Musiktheaters

Wenn die Sehnsucht tanzen geht - Schaurig-schöne Ästhetik und düstere Fulminanz in Hamburgs Gruft

Theater kann die Welt verändern - "Der Club der toten Dichter", ein eindringliches Meisterwerk, das die Sprache des Herzens spricht