Wicked - Eine ozgezeichnete Reise auf den Spuren von Elphaba, Glinda und Co

Gut oder böse? Schwarz oder weiß? Gibt es eigentlich solch eine Differenzierung oder kann die Welt gar nicht nur in Extremen gesehen werden? Sind der Mensch und seine Taten nicht vielmehr eine Palette an schillernden Farben, die nicht auf nur einen Farbton reduziert werden kann?
Nach einer langen Zwangspause im Kulturbereich ist nun endlich die Magie in die Neue Flora in Hamburg zurückgekehrt - und das wortwörtlich, denn vor ca. zwei Wochen sind Hexen, Zauberer und Fabelwesen aller Art in das Theater eingezogen. Die Neue Flora hat sich in das sagenumwobene Oz verwandelt und lädt die Besucher ein, sich auf eine zauberhafte Reise durch die Welt von Elphaba, Glinda und Co zu begeben. Nachdem "Wicked" bereits in der Vergangenheit für große Begeisterung bei Musicalliebhabern gesorgt hat, ist die Show nun in einem neuen Gewand nach Deutschland zurückgekehrt. Für mich war der Besuch in der Neuen Flora das erste Theatererlebnis seit anderthalb Jahren und bevor ich mehr über die Inszenierung verrate, muss ich betonen, welch besonderer Moment es war, im Theatersaal zu sitzen und den ersten Tönen nach so langer Pause zu lauschen. Gänsehaut war da schon vorprogrammiert... 


Doch nun zur Produktion... Das Erste, was Musicalfans, die mit diesem Stück bereits vertraut sind, nun sicherlich fragen werden, wird sein: Hast du die ursprüngliche Fassung von "Wicked" in Stuttgart, Oberhausen oder vielleicht auch London gesehen? Was hat sich verändert und inwiefern wurde die Show angepasst, abgewandelt oder modifiziert?
Daher zu Beginn der Rezension der kurze Hinweis, ich habe "Wicked" diese Woche das erste Mal erleben dürfen. Für mich war es eine absolute Premiere und daher spiegelt dieser Bericht meinen ersten und völlig unvoreingenommenen Eindruck von der Show wider. Ich kann keine Vergleiche zu anderen Inszenierungen ziehen, sondern "nur" mein Gefühl bezüglich der Hamburger Fassung des populären Musicals mit euch teilen und dieses ist - soviel kann ich schon vorwegnehmen - äußerst positiv.


Das Musical erzählt die Geschichte einer ganz besonderen Freundschaft: Elphaba und Glinda, zwei Hexen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, lernen sich auf der magischen Akademie kennen, wo sich die beiden ein Zimmer teilen müssen. Glinda, die die Aufmerksamkeit liebt und sich kaum vorstellen kann, dass mal etwas nicht nach ihrem Willen funktioniert und Elphaba, die seit ihrer Geburt ständig ausgegrenzt und aufgrund ihrer äußerlichen Andersartigleit verspottet wird, sind wie Feuer und Wasser. 
Doch was als erbitterter Kampf zweier Rivalinnen beginnt, mündet schon bald in einer innigen Freundschaft, denn die magischen Abenteuer in Oz lassen sich doch viel besser bestreiten, wenn man einen Menschen an seiner Seite weiß, mit dem man seine persönlichen Wünsche, Geheimnisse und Ideen teilen kann. Während Elphaba in ihrer Zimmergenossin die erste Gefährtin überhaupt findet, ist es auch für Glinda eine ganz besondere Freundschaft, denn das ständige Streben nach Popularität und Aufmerksamkeit kann ganz schön einsam machen. Auch wenn Glinda ständig von Menschentrauben umgeben ist, wird Elphaba doch die erste wahre Freundin, die in ihr Leben tritt. Allerdings wartet auf die beiden Hexen eine Vielzahl an Herausforderungen, die ihre Freundschaft auf die Probe stellen wird, denn in Oz ist nichts so, wie es auf den ersten Blick scheint. Und dann gibt es da noch den attraktiven und begehrten Fiyero, der den Alltag der weiblichen Akademiebesucher gehörig durcheinander wirbelt. Das Trio muss sich auf eine abenteuerliche Reise begeben, perfide Pläne durchkreuzen und sich gefährlichen Gegnern stellen - nicht zuletzt ihren eigenen Gefühlen, die manchmal ganz schön verwirrend sein können. 

Das Musical hat eine ganze Menge zu bieten, die Kompositionen gehen ins Ohr und so manche dramatische Wendung lässt die Herzen der Zuschauer temporär schneller schlagen, doch die größte Überraschung an dieser Produktion stellt sicherlich mit Abstand die herausragende Besetzung dar. Von den Hauotrollen bis hin zum Ensemble, alle Rollen sind brilliant besetzt und die Cast vermag es mit scheinbarer Leichtigkeit, das Publikum für die Geschichte zu gewinnen und einen Sog auf die Besucher auszuüben. Gemeinsam mit fantastischen Künstlern begibt sich das Publikum auf eine spannende Reise direkt in das Herz von Oz.

In der Hauptrolle der "Elphaba" brilliert Vajèn van den Bosch, die mit ihrer Stimmgewalt und Präsenz auf der Bühne überzeugt. Aufgrund ihrer einnehmenden Interpretation der "bösen Hexe des Westens" spielt sie sich in Windeseile in die Herzen der Zuschauer. Ihr gelingt es scheinbar mühelos, die Vielschichtigkeit der Figur zu transportieren und die Beweggründe und verborgenen Sehnsüchte der Hexe transparent werden zu lassen. Immer wieder kreiert die Künstlerin mit ihrer grandiosen gesanglichen Darbietung Höhepunkte in der Show und lässt große Emotionen aufleben.

Jeannine Michele Wacker begeistert in der Rolle der exzentrischen "Glinda" und harmoniert hervorragend mit ihrer Spielpartnerin Vajèn. Die Stimmen der beiden Künstlerinnen passen wunderbar zusammen und sorgen immer wieder für Gänsehautmomente im Saal. Jeannine hat die Möglichkeit, im Rahmen dieses Engagements ihr volles schauspielerisches Potenzial auszuschöpfen. Ihr gelingt es ausgezeichnet, die extrovertierten Züge der Figur zu verkörpern und die Darstellung Glindas in einem für die Rolle notwendigen Maße geschickt zu überspitzen, sodass sie mit ihrer Präsentation eine ordentliche Prise Humor in die Show bringt. Mit Blick auf Gestik, Mimik und stimmliche Akzente wird deutlich, warum Jeannine die ideale Besetzung für diese Hauptrolle darstellt. 

Den männlichen Partner der beiden charakterlich stark gezeichneten Protagonistinnen spielt Naidjim Severina, der als "Fiyero" das Trio prima ergänzt. Der Darsteller verkörpert einen charismatischen und äußert charmanten Schüler der magischen Akademie, der zu Beginn der Geschichte vor allem an einem interessiert ist: seinem eigenen Amüsement. Im Laufe der Zeit werden für den Zuschauer jedoch auch seine verborgenen Seiten transparent und das Publikum taucht in Fiyeros Gefühlsleben ein. Naidjim präsentiert die Entwicklung von einem an Oberflächlichkeiten interessierten Schüler hin zu einem mitfühlenden Mann, der mit offenen Augen durch das Leben geht, herausragend. Der Darsteller verleiht der Rolle mit jeder Szene mehr Tiefgang und lässt diese im Laufe der Geschichte an ihren Aufgaben und Herausforderungen authentisch wachsen. 

Frank Logemann stand an diesem Abend als großer "Zauberer von Oz" auf der Bühne. Ihm gelingt es wunderbar, den Spagat zwischen dem gefürchteten, skrupellosen Magier und dem einsamen, emotionalen Menschen, der von Sehnsüchten erfüllt ist, zu präsentieren. Immer wieder lässt der Künstler die Gefühle des Zauberers aufblitzen und verleiht der Figur zugleich eine besondere Ausstrahlung und Größe, hinter deren Fassade man erst im Laufe der Geschichte zu blicken vermag. 

An seiner Seite begeisterte in dieser Vorstellung Barbara Tartaglia in der Rolle der gestrengen "Madame Akaber". Die Künstlerin nimmt mit ihrer Präsenz die gesamte Bühne für sich ein und formt mittels ihres außergewöhnlichen schauspielerischen Talents eine Figur mit Ecken und Kanten. Sie verleiht der Rolle mit scheinbarer Leichtigkeit ihre ganz persönliche Note und insbesondere aufgrund von Barbaras besonderer Ausdruckskraft bleibt ihre Verkörperung lange im Gedächtnis. 


Weiterhin überzeugt Pamina Lenn als Elphabas Schwester "Nessarose" auf ganzer Linie und verkörpert die Rolle mit viel Fingerspitzengefühl für die Träume und Emotionen des Charakters. Immer wieder gewährt sie dem Publikum einen Einblick in das Innenleben der vielschichtigen Figur. Pamina vermag es, die Wandlung der liebenswerten Schwester hin zu einer willensstarken Gouverneurin, die aufgrund zahlreicher Schicksalsschläge kontinuierlich verbittert ist, authentisch darzustellen und die Stärke der von Krankheiten und Verlusten gezeichneten Frau zu offenbaren. Auch gesanglich glänzt die Künstlerin vollkommen und berührt mit ihrer zarten und glasklaren Stimme.

Jan Rogler steht als Mitschüler "Moq" auf der Bühne, der unsterblich in Glinda verliebt ist, sich aber dennoch nicht von Nessarose lösen kann. Der Darsteller harmoniert perfekt mit Spielpartnerin Pamina Lenn und lässt den inneren Zwiespalt zwischen der Faszination für Glinda und dem Pflichtgefühl gegenüber der im Rollstuhl sitzenden Nessarose wunderbar transparent werden. Aufgrund von Jan Roglers schauspielerischem Geschick fällt es dem Zuschauer nicht schwer, mit dem innerlich zerrissenen Charakter mitzufühlen und den Konflikt der Figur nachzuvollziehen. 

Gianni Meurer verkörpert den tierischen "Dr. Dillamonth" mit viel Feingefühl und spielt sich mit seiner liebenswerten Interpretation des Lehrers mühelos in die Herzen des Publikums. Schnell ist der Zuschauer von der sprechenden Ziege und ihrem Schicksal gefangen und fiebert mit dem außergewöhnlichen Tier mit. Gianni begeistert schauspielerisch in all seinen Szenen und ermöglicht es dem Theaterbesucher, eine unglaubliche Nähe zu dieser Figur aufzubauen. 

Die Besetzung der einzelnen Rollen ist in meinen Augen großartig gelungen. Das Ensemble tritt stimmgewaltig auf und entführt den Zuschauer in das magische Oz. Ob gesanglich, tänzerisch oder schauspielerisch - die einzelnen Mitglieder der Cast übertreffen die Erwartungen des Publikums noch und strahlen eine unbändige Freude an ihrer Arbeit aus, die von der ersten Minute an mitreißend ist.

Auch in puncto Kulissen ist bei dieser Produktion ein großer Einfallsreichtum zu erkennen. Das Bühnenbild und die Kostüme wirken teils sehr opulent und farbenfroh. Natürlich ist vor allem die Farbe grün in zahlreichen Szenen vorherrschend und zieht sich als Leitfaden durch die Show. Die magischen Momente kommen in diesem Musical ebenfalls nicht zu kurz und so wird auch das ein oder andere Mal geschickt gezaubert. 

Die Kompositionen umfassen eine große Bandbreite an musikalischen Arrangements. Gefühlvolle Balladen mischen sich mit schwungvollen Tanznummern und fangen den Facettenreichtum der Show toll ein. Einziges Manko; die Abmischung des Tons war leider an einigen Stellen noch nicht hundertprozentig gelungen, sodass es teilweise sehr schwierig war, die Texte zu verstehen. In manchen Szenen kostete es große Mühe, den seitens der Künstler fabelhaft vorgetragenen Songs zu lauschen.


Insgesamt wirkt die neue Inszenierung von "Wicked" sehr erfrischend, spritzig und modern angehaucht. Die Handlung ist äußert rasant und lädt den Zuschauer mit ihrem Tempo und ihren unerwarteten Wendungen zum Staunen ein. Die Show ist mit einem Reichtum an Ideen gefüllt und verpackt wichtige Botschaften in einer schillernden und atemberaubenden Story. Die Geschichte ist zeitlos und greift aktuelle Themen, Problematiken und Gesellschaftskritiken künstlerisch auf. Im Zentrum des Stücks steht der Gedanke der Diversität und Vielfalt. Das Musical führt vor Augen, wie bedeutsam es ist, dass jedes Individuum seine eigene Persönlichkeit mitbringt und die Gemeinschaft vor allem durch diese Heterogenität erst besonders, ja, vollkommen einzigartig wird. "Wicked" entführt den Zuschauer in ein Reich voller Magie und Abenteuer, das elementare Bezüge zu unserer heutigen Gesellschaft inkludiert. Die Reise von Elphaba, Glinda, Fiyero und Co ist lang und steinig. Es geht nicht immer geradeaus und manchmal muss man erst einen Schritt zurücktreten und sich seiner eigenen Werte bewusst werden, bevor man die Vielzahl an Herausforderungen meistern kann. 
Mit der Hamburger Inszenierung des Welterfolgs ist Stage Entertainment eine grandiose Produktion gelungen, die Realität und Fiktion verschmelzen lässt und das Publikum mit Figuren vertraut macht, die allesamt helle und dunkle Seiten in sich tragen und erst in genau dieser Farbenpracht zu leuchten beginnen.

         Fotos: (c) Brinkhoff - Moegenburg /
                           Stage Entertainment 

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