Vom Mut, den eigenen Ton zu finden - Ein himmlischer Theaterabend der großen Emotionen

"Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist." Dies waren einst die Worte Victor Hugos, der damit auf die besondere Kraft musikalischer Sprache anspielte. Manchmal hat ein einzelner Ton mehr Gewicht als alle Worte, manchmal liegt in einer Dissonanz mehr Schmerz verborgen als in allem Gesagten, manchmal kann ein Akkord mehr Seelenfrieden in sich tragen als alle mündlichen Beteuerungen. Musik hat die Macht Menschen zu verbinden, sie Augenblicke geteilter Emotionen erleben zu lassen und sie in der Schönheit eines Klangs, der im nächsten Moment schon wieder seine Flügel ausstreckt und unwiderruflich davon schwebt, einander anzunähern. In dem Glanz der Musik vereinen sich schallendes Lachen der Glückseligkeit und leises Tropfen sehnsuchtsvoller, verzweifelter Tränen zu einer durchdringen Komposition des Gefühls, die unter dem energiegeladenen Dirigat des Lebens aufsteigt.
In diesem Jahr haben die Bad Hersfelder Festspiele ihr reichhaltiges Programm, das wieder einmal durch die Kombination unterschiedlicher Variablen der Bühnenkunst glänzt, eben jener umrissenen Schönheit der Musik verschrieben, die auf vielfältige Weise in den unterschiedlichen Werken in der Stiftsruine verhandelt wird. Als besonderer Stern am Theaterhimmel erstrahlt in der Riege hochwertiger Inszenierungen das musikalische Theaterstück "Wie im Himmel", das von kleinen und großen Momenten des Lebens und Liebens zu erzählen weiß.
Regisseur Jörn Hinkel ist hier wieder einmal ein Geniestreich emotionaler Bühnenkunst gelungen, der sich durch diese besondere theatrale Tiefe auszeichnet, die das zentrale Charakteristikum für die grandiosen Produkte des Intendanten abbildet. Vor dem Hintergrund des atmosphärischen Festspielgemäuers erhebt sich ein Stück pittoresker Bühnenkunst, die berührende Bilder von Menschlichkeit und dem Mut, sich selbst in neuen Farben zu entdecken, zeichnet und den Zuschauer dabei auf feinfühlige wie eindringliche Weise zu einer Reise in das Herz der Musik lädt.

             (c) BHF/Johannes Schembs 

"Wie im Himmel" erzählt eine Geschichte um Freundschaft und Liebe, um Zerwürfnisse und Vergebung und um die heilende Kraft der Musik, die manchmal alle Last der Welt vergessen lässt und zugleich ihren gesamten Schmerz in sich trägt.
Stardirigent Daniel Daréus steht am erfolgreichen Zenit seiner Karriere. Abend für Abend ist es an ihm, die größten Konzertsäle der Welt in der bestechlichen Schönheit der Musik auszukleiden und das erwartungsvolle Publikum mit einer atemberaubenden Darbietung zu beschenken. Der stets nach höchster Qualität strebende Mann lebt voll und ganz für die Musik, sein Gehör ist stets auf der Suche nach der Imposanz der Klänge und ein Blick in seinen Terminkalender verrät, die internationalen Konzerthäuser sehnen sich nach Daréus besonderem Gespür für Töne und Melodien. Doch das hohe Arbeitspensum und die zunehmende Ruhelosigkeit eines unverbesserlichen Perfektionisten fordern ihren Tribut und so endet Daniels Dirigat in Mailand schließlich mit einer folgenschweren Herzattacke, die sein Leben für immer verändern soll. Ausgebrannt und völlig geschwächt kehrt der erfolgreiche Musiker in das verschlafene Städtchen seiner Kindheit zurück, in dem die Uhren ganz anders ticken als in den belebten Metropolen, die in den Jahren seiner großen Karriere das Leben des Mannes bestimmt haben. Wo Fuchs und Hase sich noch Gute Nacht zu sagen scheinen, erlebt der überarbeitete Stardirigent das erste Mal ein Gefühl des Ankommens sowie der Befreiung von inneren wie äußeren Zwängen, die in den vergangenen Jahren seinen Alltag determiniert haben, und begibt sich auf eine gefühlvolle Reise zwischen schwermütiger Vergangenheit und hoffnungsvoller Zukunft. Der Anblick längst vergessen geglaubter Schauplätze seiner Kindheit weckt emotional besetzte Erinnerungsbilder und verleitet Daniel dazu, tiefer in das Herz seines Heimatdorfes einzutauchen, das für ihn lebensverändernde Begegenungen bereithalten und ihn lehren soll, was im Leben wirklich zählt... 

                   (c) BHF/S. Sennewald 

Angeführt wird die Truppe großartiger Künstler von Henry Arnold, dem mit seiner berührenden, warmherzigen Interpretation des erfolgreichen und zugleich von seinem hohen Arbeitspensum völlig erschöpften Dirigenten "Daniel Daréus" ein Stück schauspielerischer Meisterleistung gelingt. Mutig spürt der Künstler allen emotionalen Regungen der Figur nach, scheut nicht davor zurück, mit seiner gesamten Körperlichkeit auch in den Schmerz sowie in die Trauer des Mannes einzutauchen, und zeichnet so mit viel Fingerspitzengefühl einen vielschichtigen Protagonisten, der in einer charakterlichen Mehrdimensionalität erstrahlt. Bravourös gelingt es dem Darsteller, eine leidenschaftliche, herzensgute Figur zu kreieren, die im Laufe der Geschichte charakterlich stetig wächst und sich auf eine bewegende Reise zu sich selbst und ihren Wurzeln begibt. Dreht sich der Vollblutkünstler zu Beginn der Geschichte gänzlich um die tiefe Liebe zur Musik sowie um seine stetige Suche nach dem perfekten, vollen Klang, entdeckt Daniel mit Fortschreiten der Handlung auf berührende Weise, was ihm im Leben bislang gefehlt hat und welche Kraft in menschlichen Begegnungen verborgen liegt. Henry Arnold zeichnet diese sich über den Abend hinweg scheinbar ganz natürlich entspinnende Entwicklung mit solch einer Sensibilität und Hingabe, dass es dem Zuschauer immer wieder Tränen in die Augen treibt angesichts einer solchen spielerischen Finesse. Mal schon nahezu besessen von der Macht der Musik, mal zaghaft und neugierig wandelnd auf den Spuren seiner eigenen Vergangenheit - der Schauspieler vermag es in seiner künstlerischen Qualität ausgezeichnet, den charakterlichen Facettenreichtum auf authentische Weise auszuarbeiten und dem Zuschauer einen nahbaren Charakter vorzustellen, der in seiner Ehrlichkeit wie Menschlichkeit berührt. Besonders bemerkenswert gestaltet sich hierbei die dargebotene Interaktion Daniels mit den Dorfbewohnern, die aufgrund seines jahrelangen Rückzugs von der sozialen Welt zunächst noch von einer gewissen Unbeholfenheit, ja nahezu einer Schüchternheit geprägt ist, doch im Laufe der Geschichte immer mehr an Vertrauen in die eigene Person sowie in die Kraft des Beisammenseins gewinnt. Henry Arnold stürzt sich mit seinem gesamten künstlerischen Sein in die Rolle des gütigen Musikers, kreiert so eine ganz eigene Körperlichkeit, die zwischen den Nuancen von innerer Unsicherheit, erdrückenden Zwängen sowie herzlicher Leidenschaft changiert und unterstützt insbesondere mit seiner ausdrucksstarken Mimik das plastische Bild eines charakterlich facettenreichen Mannes, der manchmal den Dorfbewohnern ebenso wie dem Theaterpublikum für kurze Momente direkt in die Seele zu blicken scheint.

In der Rolle der "Lena" begeistert Helena Charlotte Sigal mit einem rundum herausragenden Spiel, das die jugendliche Leichtigkeit und Lebendigkeit der jungen Frau mit der Tiefe eines verletzlichen Charakters zu verbinden weiß. Mit sichtlicher Spielfreude mimt die Darstellerin einen neugierigen, forschen und manchmal beinahe etwas naiv anmutenden Charakter, der mit seiner herzlichen Art einen Unterschied im Leben vieler Dorfbewohner macht. Mit ihrem übersprudelnden Enthusiasmus sowie ihrer Unbedarftheit gelingt es Lena, das innere Kind Daniels zu wecken, ihm eine innere Freiheit zu schenken und ihn eine nie gekannte Form der Lebensfreude spüren zu lassen. Dank Helenas energetischem Spiel wird das Publikum hautnah Zeuge einer sich sanft entwickelnden Annäherung zweier Charaktere, die auf den ersten Blick grundverschieden sind und sich gegenseitig doch so viel Halt geben können. Im Zuge dessen lässt die Darstellerin geschickt eine schlagfertige, starke Persönlichkeit aufleben, die jedoch die Narben ihrer Vergangenheit tief in sich trägt und in stetiger Angst, erneut verletzt und verlassen zu werden, versucht, ihren Schmerz in beinahe schon krampfhaft erzwungener Leichtigkeit zu ertränken. Mit großem Feingefühl für das Innenleben sowie die biografischen Hintergründe der Figur balanciert die Künstlerin sowohl die kraftvollen als auch die verletzlichen Anteile des Charakters aus und lässt die Vulnerabilität der jungen Frau in ihrer Darstellung transparent aufblitzen. Abgerundet wird die gefühlvolle Darbietung von einer stimmlichen Brillanz, die den eigens für das Stück komponierten Melodien erst ihre volle Schönheit entlockt. Klangvoll tanzt Helenas Stimme durch das Auditorium des alten Gemäuers und zaubert eindrucksvolle Gänsehautmomente vor dem Hintergrund emotionaler Liedinterpretationen.

              (c) BHF/Johannes Schembs

In der Rolle der jungen Mutter "Gabriella" vermag es Sandy Mölling, in spielerischer wie gesanglicher Perfektion zu glänzen und den Zuschauer mit einer ganz sensibel geschliffenen, authentischen Fassung einer warmherzigen Frau zu konfrontieren, die sich mit einer gehörigen Portion innerer Stärke durch die Härte ihres alltäglichen Lebens schlägt und dabei doch niemals den Glauben an das Gute im Menschen verliert. Der Darstellerin gelingt es hervorragend, die Dramatik rund um diese Figur einer jungen Mutter und Ehefrau, deren Zuhause -  das eigentlich von den Gefühlen von Sicherheit und Geborgenheit leben sollte - manchmal zu einem qualvollen Gefängnis wird, nicht durch expressives Schauspiel zu erzwingen, sondern sich ganz im Gegenteil über weite Strecken der Darbietung eher zurückzunehmen und dem Charakter gerade durch diesen Mut eines ganz puren Spiels seine volle Größe zu entlocken. 
Dank Sandy Möllings emotionsgewaltigen Auftretens avanciert der Charakter zu einer der berührenden Identifikationsfiguren des Stücks, die in ihrer Ehrlichkeit und Reinheit bestechen. In ihrer feinsinnigen Interpretation tritt "Gabriella" als aufopferungsvolle Mutter und liebevoller Mensch auf, der Anderen voller Wärme begegnet und dabei in aller Nächstenliebe manchmal vergisst, für sein eigenes Wohlergehen zu sorgen. Mit spielerischem Geschick spannt die Künstlerin auf der Bühne einen Bogen, im Zuge dessen sich die Figur ganz zaghaft von einer sanften, beinahe schon scheuen Frau zu einer kraftvollen Persönlichkeit entwickelt. Ergänzt wird die beschriebene Spielkunst durch Sandys ausgezeichnete gesangliche Fähigkeiten. Mit glockenhellem, samtig weichen Sopran präsentiert die Künstlerin die ihr zugeordneten solistischen Parts und geriert sich dabei als musikalische Geschichtenerzählerin, deren große Stärke es ist, das Gefühl hinter den Textzeilen offenzulegen. 

Außerordentlicher Respekt gebührt Peter Englert angesichts seiner ausgefeilten, hoch authentischen Darstellung des "Tore", der aufgrund seiner geistigen Behinderung mit besonderen Bedürfnissen lebt und die Welt aus einer ganz eigenen, kindlich gefärbten Perspektive wahrnimmt. Mit spielerischer Exzellenz vermag es der Künstler, ein sehr glaubhaftes Bild des jungen Mannes zu zeichnen und dabei die Balance zwischen expressivem Spiel und kleinen Regungen und intimen Momenten zu wahren. Scheinbar mühelos erschafft der Darsteller einen lebensnahen Charakter, ohne dabei in die mit dieser Rollenzeichnung verbundene Falle der Stigmatisierung zu tappen - ganz im Gegenteil, Peter Englert koloriert mit dem nötigen Fingerspitzengefühl einen Charakter, dessen kindliche Begeisterung für seine Umwelt durchweg zu berühren vermag und dessen besondere Sichtweise auf das Leben hier als wahre Bereicherung für eine gesamte Gesellschaft herausgestellt wird. Herausragend übergeht der Schauspieler eine reine Reduktion auf die Behinderung des jungen Mannes und kleidet die Figur stattdessen mit einer anrührenden Mischung aus Tiefe, Lebendigkeit, Sorglosigkeit und Neugierde aus, die sich in jeder Szene in dem sicheren Spiel des Darstellers spiegelt und auch in jenen Momenten auf beeindruckende Weise präsent bleibt, in denen andere Charaktere in den Fokus der Geschehnisse rücken. 

              (c) BHF/Johannes Schembs

Weiterhin hallt die schauspielerische Genialität Bettina Hauenschilds in aller Größe und Qualität nach, mittels derer die Schauspielerin das Inbild einer charakterstarken Frauenfigur erschafft, die den Mut hat, die Welt mit ihren Gedanken, ihren Worten sowie ihren Gefühlen zu füllen. Eindrucksvoll verkörpert die Künstlerin die Rolle der warmherzigen Pfarrersfrau "Inger", die jedoch in aller Herzensgüte zugleich nicht davor zurückschreckt, kritisch zu hinterfragen und unbequeme Wahrheiten auf eine liebevolle wie ehrliche Weise auszusprechen. Handwerklich versiert mimt Bettina Hauenschild die Figur energetisch und mit herrlich anzusehender Spielfreude und kreiert so eine emanzipierte, starke Frauenfigur, die im Laufe der Geschichte immer mehr ihre eigene Unabhängigkeit entdeckt und dabei lernt, sich im Takt der Freiheit zu drehen. Besonders eindrücklich gestalten sich innerhalb der künstlerischen Darbietung die glaubhaft gezeichneten Ausbrüche der Figur aus dem alltäglichen Trott des Alltags an der Seite ihres streng gläubigen Gattens, welche der Rolle eine enorme Lebendigkeit verleihen und schließlich in einem explosiven Klimax der inneren Befreiung münden, den die Schauspielerin mit einer emotionalen Wucht wie Tiefe versieht. Ebenso fabelhaft gelingt es der Schauspielerin jedoch auch, die komödiantische Dimension der wortgewandten Figur herauszukitzeln und den Theaterbesuchern ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, indem Bettina Hauenschild souverän die ihrer Rolle eingeschriebenen komödiantischen Pointen herausarbeitet und dem Charakter so über weite Strecken des Stücks einen humorvollen, sonnigen Charme verleiht.

An ihrer Seite steht Jürgen Hartmann in der Rolle des störrischen Ehemannes und vordergründig konservativ geprägten Pfarrers "Stig", der sich in seinem Glauben für die Gebote der Kirche aufopfert und dabei langsam aber sicher den Blick für seine Frau verliert, die sich nach Nähe und Zuneigung, nach freiheitlichem Denken und schwungvollen Tänzen sehnt. Gefangen in selbst auferlegten Zwängen und strengen Glaubenssätzen, die ihn dazu verleiten, mit sich selbst und seiner Umwelt hart ins Gericht zu gehen, führt der Pfarrer ein Leben zwischen geheimen Genüssen und prompt folgender Buße und Reue. Jürgen Hartmanns meisterhaft ausgearbeitete Interpretation bedient sich eines beeindruckenden Verständnisses für die emotionale Tiefe eines Charakters, der sich doktrinär an die kirchlichen Gesetze klammert und aus diesem rigiden Glauben an die Sünde und die Strafe Gottes an der eigenen menschlichen Fehlbarkeit leidet, welche er sich selbst kaum verzeihen kann. Der Schauspieler umrahmt die Figur mit einer autoritären Schale, deren herrisches Verhalten des Öfteren den Atem der Zuschauer stocken lässt und verbindet diese zugleich ganz geschickt mit einem eigentlich sehr sensiblen figuralen Kern, der im Zuge der charakterlichen Entwicklung immer stärker hervorblitzt. Jürgen Hartmann gelingt es hervorragend, das Publikum mit einer vielschichtigen Figur zu konfrontieren, die ihr Leben in dem stetigen Versuch führt, die eigene Falibilität zu verstecken sowie ihren Sinn für Leidenschaft zu leugnen, und in der strikten Orientierung an dem Transzendenten die Lebendigkeit allen Irdischens zunehmend aus den Augen verliert. 

              (c) BHF/Johannes Schembs

In der Rolle des "Holmfried" begeistert Günter Alt mit einer rundum grandiosen, hoch authentischen Darstellung, die es vermag, all die charakterlichen Facetten eines gestandenen Mannes hervorzulocken, der zugleich jedoch nicht davor zurückschreckt, seine Gefühle nach außen zu kehren und Tränen zu vergießen, die von der Vulnerabilität und dem Feingefühl des auf den ersten Blick souverän agierenden Mannes zeugen. Spielerisch gewandt mimt der Darsteller einen empathischen, liebenswerten Mann, der seinen Mitmenschen stets voller Wärme begegnet und an dem Schicksal anderer teilnimmt. 
Als besonders wertvoll für die Kreation dieser mehrschichtigen Figur entpuppt sich dabei die bemerkenswerte Harmonie aus handwerklicher Präzision und empfindsamer Einfühlungsgabe, mittels derer Günter Alt einen nahbaren Charakter koloriert, der im Laufe der Vorstellung eine starke Entwicklung durchlebt und immer mehr lernt, für sich selbst einzustehen. Besonders eindrucksvoll und authentisch gestaltet sich in der Darstellung des Schauspielers jener Moment, in dem der sonst so ausgeglichene, in sich ruhende Holmfried erstmals in einem expressiven Ausbruch aufgeht und all den Schmerz offenbart, der sich über Jahre hinweg still und heimlich in sein Herz geschlichen hat. 
Veredelt wird das geschickte Spiel von einer imponierenden Stimmgewalt, die Günter Alt im Rahmen dieses Engagements bestens zu präsentieren weiß. 

Nicht minder exquisit gestaltet sich die Darbietung Wolfgang Seidenbergs, der die Figur des geschäftstüchtigen Ladenbesitzers und ambitionierten Chormitglieds "Arne" mit einer gehörigen Portion künstlerischen Scharfsinns kreiert. Seine Interpretation lebt von einer Cleverness des Charakters, die den Mann stets das ganz große Geschäft wittern und dabei manchmal in seinem Ehrgeiz ein wenig über das Ziel hinausschießen lässt. Dank der stetig transparent werdenden spielerischen Freude und Leichtigkeit gelingt es dem Künstler scheinbar mühelos, den übersprudelnden Enthusiasmus der Figur auf das Publikum zu übertragen und das Abbild eines gewieften, manchmal etwas sturköpfigen Mannes zu zeichnen, der sein Herz eigentlich am rechten Fleckt trägt, doch dessen Zunge manchmal schneller agiert als sein Kopf. Bei diesem Unterfangen wird Wolfgang Seidenberg von einer unglaublichen Bühnenpräsenz begleitet, die den Darsteller die Bretter, die die Welt bedeuten, ausdrucksstark einnehmen lässt.

              (c) BHF/Johannes Schembs

Die Produktion lebt von der charakterlichen Vielschichtigkeit, die in der Melange all der liebenswerten Dorfbewohner aufblüht. Da ist die rüstige "Olga", die mit einmaliger spielerischer Raffinesse von Brigitte Grothum präsentiert wird. Eindrucksvoll beweist die Schauspielerin in der Rolle ihr komödiantisches Talent, harmoniert wunderbar mit Spielpartner Walter Kreye -, der den Jugendfreund und heimlichen Verehrer "Erik" rundum überzeugend und voller Wärme verkörpert - und lässt mit ihrer Interpretation der Figur eine schlagfertige Dame aufleben, die sich bis ins hohe Alter hinein ihre Lebensfreude bewahrt und es auch nach all den Jahren noch faustdick hinter den Ohren hat. Eine weitere Bereicherung für das Ensemble stellt Marina Lötschert dar, die voller Esprit und Charme die Rolle von Sonnenschein "Amanda" ausgestaltet. Mit ansteckender Spielfreude und Energie umzeichnet die Künstlerin die Konturen einer herzlichen Frohnatur und bringt die gute Seele des Chores in all ihrer Heiterkeit, aber auch der dahinterliegenden Tiefe auf die Bühne. 
Anna Graenzer offenbart ihr künstlerisches Können hinsichtlich der Zeichnung von Rolle "Siv" - einer jungen, manchmal etwas verhuscht und verklemmt wirkenden Frau, die in ihrer verzweifelten Suche nach dem eigenen Glück anderen Menschen ihre Freuden des Lebens neidet und in der Konfrontation mit ihren eigenen Unsicherheiten oftmals nicht aus ihrer Haut kann. Glaubhaft stattet die Darstellerin die Frauenfigur mit Attributen der Missgunst und des Argwohns aus und mimt ein befangenes Mauerblümchen, das über den Abend hinweg seine ganz persönliche Reise durchlebt.
Die Rolle von Gabriellas Ehemann "Conny" wird mit großem darstellerischen Talent von Mathias Znidarec verkörpert, dem es gelingt, der Figur eine Mehrdimensionalität zu entlocken. Gekonnt balanciert der Schauspieler die Facetten eines liebevollen Vaters mit jenen Momenten aus, in denen Conny von einer in ihm schlummernden Aggression überwältigt wird und die Kontrolle über sein eigenes Handeln verliert. Mathias Znidarec präsentiert diesen inneren Konflikt in solch einer Authentizität, dass die impulsiven Aussetzer des Mannes dem Publikum nicht selten das Blut in den Adern gefrieren lassen.

Fragt man nach dem Geheimnis, einem Erfolgsrezept, warum das Stück bei seinen Rezipienten so unmittelbar ins Herz trifft, dann bleibt es nicht aus, die schauspielerische Gewalt, die hier von dem gesamten Ensemble ausdrucksstarker Künstler ausgeht, als einen der elementaren Faktoren für die emotionale Tiefe der Produktion hervorzuheben. Jeder einzelne Darsteller scheint seine ihm zugedachte Figur nicht einfach nur spielerisch zu skizzieren, sondern über die Vorstellungsdauer hinweg wahrhaftig in die Fußstapfen der plastisch geformten Charaktere zu treten und das figurale Ensemble so mit einer ganz besonderen Lebendigkeit auszustatten. 
Besondere Fulminanz in puncto personaler Formation bietet natürlich der große Chor, dem entsprechend der inhaltlichen Thematik eine gewichtige Aufgabe zufällt. Wundervoll verschmelzen all die einzigartigen Stimmen der rund 40 Sängerinnen und Sänger zu einer Gänsehaut zaubernden Einheit musikalischer Schönheit, die sich über das Auditorium der Ruine legt und all den Glanz der eigens für die Bühnenfassung komponierten musikalischen Arrangements hervorkitzelt.

              (c) BHF/Johannes Schembs

Die Produktion lädt den Zuschauer geradewegs zu einem Zusammentreffen mit realitätsgetreuen, nahbaren Figuren ein, die allesamt ihr eigene Geschichte, ihre persönlichen Träume und Ideen sowie ihren unverwechselbaren Charakter mitbringen. Das Stück lebt von dem Topos menschlicher Begegnungen, der das Herzstück der gesamten Inszenierung abbildet, aus welchem heraus sich eine Vielzahl interaktionaler Momente entspinnt, die gleichermaßen von herrlicher Situationskomik und emotionaler Tiefe gespeist werden. Der Zauber der Produktion liegt in erster Linie in dem bunten Potpourri greifbarer Charaktere mit hohem Identifikationspotenzial verborgen, die in erster Linie in ihrer Schlichtheit und Authentizität zu berühren wissen. Der Chor der Geschichte wird hier zu einem Spiegelbild einer gesamten Gesellschaft, indem teils völlig konträr eingestellte Figuren mit individuellen Stärken und Schwächen vor dem Hintergrund der geteilten Liebe zur Musik aufeinandertreffen und im Kontext gemeinsamer Erfahrungen Stück für Stück lernen, dass es manchmal den Mut braucht, sich in seiner ganzen Verletzlichkeit der Welt zu öffnen und auf die Kraft der Gemeinschaft zu vertrauen. 

"Wie im Himmel" erzählt eine bewegende Geschichte rund um Freundschaft und Liebe und eröffnet ein Konglomerat an wichtigen Themen, zu denen hier im Kontext kulturellen Genusses ein leicht zu begehender Zugang eröffnet wird. Im Rahmen des Handlungsgeflechts werden Inhalte, wie Mobbing, Vorverurteilung, gewaltvolle Auseinandersetzungen, Andersartigkeit und das Eingestehen eigener Schwächen ganz sensibel und zugleich doch so kraftvoll angesprochen, sodass der Nachhall erzählerischer Kunst in den Herzen des begeisterten Publikums zurückbleibt. Auf der bewegenden Reise an der Seite lebensnaher Charaktere blickt der Zuschauer nicht selten einem Abbild seiner selbst ins Gesicht, das sich sicherlich zwischen all den facettenreichen Figuren ausmachen lässt. Beinahe unmerklich verschwimmen Realität und theatrale Fiktion zu einem atmosphärischen Gebilde, das den Theaterbesucher auf ganz subtile und dabei zugleich so unglaublich eindringliche Art mit existenziellen Fragen nach dem Sinn des Lebens, der Einzigartigkeit eines jeden Menschen und dem Wert lang geträumter und doch nie gelebter Träume konfrontiert. Dabei lässt die Produktion Raum für ein eigenes, subjektiv gefärbtes Erleben der Geschichte, das den Zuschauer dazu einlädt, eigene Erfahrungen und Interpretationen in die Rezeption des Stücks einzubringen. So werden manche Szenen zwar mit bestimmten Farben unterlegt, die eine gewisse Lesart der Entwicklungen auf der Bühne implizieren, doch die Ereignisse werden dabei so kunstvoll angedeutet und nicht explizit auserzählt, dass der Theaterbesucher sich sein eigenes Bild der Geschehnisse malen und seine individuelle Version erschaffen kann.

               (c) BHF/Johannes Schembs

Staunen lässt vor allem die Fertigkeit, mit der die Produktion in ein Netz der Ambiguität eingewoben wurde. Verspielt und zugleich so ernst und tiefgründig, humorvoll und schmerzlich, lebensbejahend und melancholisch, gewaltig und dabei zugleich doch so still und intim kommt das Werk daher und schöpft damit aus dem Vollen des reichhaltigen Repertoires mitreißender Bühnenkunst. Augenblicke erzählerischen Pianos und Fortes fließen kunstvoll ineinander und beleuchten in ihrer Komposition all die Farben menschlicher Begegnungen, die die Welt eines Einzelnen manchmal für immer verändern können. In eindringlichem Crescendo wächst die Geschichte punktuell zu großen, emotionalen Höhepunkten an, um kurz darauf wieder in leise Melodien sanfter Annäherungen, unsicherer Fragen und zaghafter erster Schritte überzugehen. Die Produktion offeriert eine gewaltige Opulenz kleiner, fein geschliffener Details und spricht ihr Publikum auf so vielen Ebenen an, dass sich schnell der Wunsch manifestiert, dieser besondere Theaterabend möge nie vorübergehen. Am liebsten würde man der ohnehin schon dreistündigen Darbietung noch einen gehörigen Zuschuss in puncto Vorstellungsdauer zukommen lassen und das nicht nur, um die in hoher Intensität und schnellem Erzähltempo dargebotenen Ereignisse noch bedachter aufnehmen zu können, sondern in erster Linie, um sich nicht der Schönheit und Kraft dieses eindrücklichen Theatererlebnisses entziehen zu müssen.

Ergänzend zu dem starken Buch und den inszenatorischen Kniffs wartet die Produktion mit einer fabelhaft arrangierten Kulisse auf. Das Bühnenbild von Jens Kilian schafft ein atmosphärisches Bild eines verschlafenen schwedischen Örtchens und rahmt das für diese Geschichte so charakteristische Kleinstadtsetting in idyllischer Atmosphäre. Im Zentrum der Bühne thront die Kirche, in der sich die Chorproben abspielen, rundherum wird das Gotteshaus von Wohnhäusern und kleinen Geschäften flankiert, im Hintergrund erhebt sich ein kleines Wäldchen. Gekonnt wird die große Bühne der Stiftsruine so bespielt, dass schnelle Schauplatzwechsel mühelos möglich sind und den Szenen von der Imposanz des Spielortes dennoch nie ihre Intimität geraubt wird. Die Weite der Hersfelder Bühne eröffnet wertvolle Räume, die Geschichte teils auf zwei Ebenen zu erzählen, wobei der sich in die Tiefe erstreckende Hintergrund oftmals Schatten aus der Vergangenheit einfängt, die sich mit dem gegenwärtigen Geschehen im Vordergrund erzählerisch verweben und ein multidimensionales Theatererlebnis generieren, das unterschiedliche Zeitebenen oder Schauplätze synchron setzt.

                  (c) BHF/S. Sennewald 

Die Bühneninszenierung bildet insgesamt ein herausragendes narratives Kunstwerk ab, welches es meisterhaft versteht, mit stilistischen wie erzähltechnischen Mitteln zu jonglieren. So arbeitet die Produktion beispielsweise wiederkehrend mit Rückblenden und Erinnerungsbildern, die in geschickter Manier in das Bühnenarrangement eingebettet werden und sich dabei mit dem gegenwärtigen Geschehen verweben. Im Rahmen eben jener Analepsen durchlebt Protagonist Daniel Begegnungen mit seinem jüngeren Ich, im Rahmen derer der Mann einem ganz reinen, unverstellten kindlichen Bild seiner selbst ins Gesicht blickt.
Zudem generiert die Inszenierung ein Spiel mit symbolisch aufgeladenen Momenten, denen eine tiefere Bedeutungsebene eingeschrieben ist. Ein Exempel dieser wunderbar bildhaften Bühnensprache verkörpert so die dezent in die Geschichte eingeflochtene Thematik des Fahrradfahrens, welche hierbei als Symbol der Freiheit und Autonomie gelesen werden kann - zweier Attribute, derer sich Daniel über lange Zeit in seinem kleinen Gefängnis des Funktionieren-Müssens überhaupt nicht bewusst war. Das Abstraktum von Freiheit und Vitalität wird über die bildliche Ebene auf der Theaterbühne in etwas Konkretes, etwas Greifbares übersetzt und mit jeder erfolgreichen Fahrt auf dem Drahtesel gewinnt der passionierte Musiker auch ein Stück seiner Freiheit und Independenz zurück.

Daniels vom Chor so frenetisch gefeiertes erstes Fazit hinsichtlich der musikalischen Arbeit der Dorfbewohner "Da ist Vieles ziemlich schön" muss mit Blick auf diesen himmlischen Theatergenuss wohl als maßlose Untertreibung bewertet werden. "Wie im Himmel" stellt eines jener Theatererlebnisse dar, die eindrucksvoll zu beweisen vermögen, welch durchdringende, emotionale Kraft in der Kunst der Worte und der Musik verborgen liegt. In der Hersfelder Stiftsruine erlebt der Zuschauer einen eindringlichen, immersiven Theaterabend, der den Zuschauer geradewegs ins Herz der Geschichte zu ziehen scheint, eine besondere Nähe zu der bunten Vielzahl lebendig geschliffener Charaktere ermöglicht und manchmal das Gefühl vermittelt, direkt im Wohnzimmer alt bekannter Freunde zu sitzen. Sanft wiegt sich die Geschichte im Takt von Mut und Menschlichkeit, von Verlust und Neuanfang, von Aufbruch und Ankunft. Mit sehnsuchtsvollem Unterton entspinnt sich das Werk ingeniöser Darbietung und präsentiert das Theater im Licht einer berührenden Reise zur menschlichen Seele einmal mehr als Lehrer des Lebens.

                   (c) BHF/S. Sennewald 




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