Tecklenburgs Herz ruft nach Les Misérables

Jahrelang mussten die deutschen Musicalliebhaber in ihrer Heimat auf einen der größten Erfolge überhaupt verzichten. Herzen in ganz Deutschland riefen nach einem ganz besonderem Stück, nämlich "Les Misérables". Das 1980 uraufgeführte musikalische Meisterwerk durfte aufgrund fehlender Lizenzen für eine lange Zeit, die ganz besonders den Fans wie eine Ewigkeit vorgekommen sein muss, nicht in Deutschland aufgeführt werden. Doch in diesem Jahr gelang es den "Freilichtspielen Tecklenburg", den Ruf der Herzen vieler Musicalfreunde zu erhören und mit der Ankündigung für den Sommer 2018 vielen Theatergängern ein Strahlen ins Gesicht zu zaubern: Den Freilichtspielen ist es tatsächlich gelungen, diesen ersehnten Welterfolg an 26 Abenden vor einem Publikum präsentieren zu dürfen, dass die Zuschauerbänke bis in die letzten Reihen füllt.
Natürlich war aufgrund der großen Erfolge in den vergangenen Jahren sicher, dass auch diese Inszenierung in jedem Falle wieder mit einer besonders hohen Qualität glänzen wird, aber welch einmalige Musicalsensation Tecklenburg mit dieser Show tatsächlich präsentieren wird, das konnte sich wohl niemand ausmalen. 


Das Musical entführt die Zuschauer in das 19. Jahrhundert zu Zeiten der Französischen Revolution, welche vor allem von Armut, Gewalt, Leid und Ungerechtigkeit geprägt war. Erzählt wird die Geschichte des Häftlings Jean Valjeans, der nach 19 Jahren Haft das Gefängnis endlich auf Bewährung verlassen darf. Doch kaum auf freiem Fuße wird Valjean mit der harten Realität und vielen Vorurteilen konfrontiert. Er entscheidet sich sodann, seinem Leben eine neue Richtung zu geben und taucht in die Rolle des Bürgermeisters "Monsieur Madeleine " ab. Allerdings muss er schnell erkennen, dass es keine leichte Aufgabe ist, seine eigentliche Identität und vor allem seine grausame Vergangenheit zu verbergen. Besonders Polizeiinspektor "Javert", dessen einzige Lebenserfüllung die Verhaftung des geflohenen "Valjean" zu sein scheint, konfrontiert ihn immer wieder aufs Neue mit der harten Realität. Nach dem tragischen Tod der armen Fabrikarbeiterin "Fantine" nimmt sich Jean Valjean ihrer kleinen Tochter "Cosette" an und zieht sie wie sein eigenes Kind groß. Während Cosette zu einer jungen Frau heranwächst, von der besonders der junge "Marius" nicht die Augen lassen kann, und Valjean erkennen muss, wie sehr seine Sicherheit tatsächlich gefährdet ist, wächst in Frankreich der Hass auf die Regierung und so entsteht der Plan für den revolutionären Barrikadenkampf. Auch Valjean schließt sich der kämpfenden Truppe an, um Cosettes Verehrer Marius heimlich zu begutachten und erlebt wieder einmal die Bitterkeit und Ungerechtigkeit der revolutionären Zeit. Plötzlich scheint nicht nur seine eigene Unversehrtheit auf dem Spiel zu stehen, auch das Leben des feindlich gesinnten Javert und das des Marius liegt auf einmal in seinen Händen.


Wie auch in den vergangenen Jahren zeichnet sich Tecklenburg nicht nur durch sein feines Gespür für eine großartige Auswahl der Shows, sondern auch durch deren fabelhafte Umsetzung, welche zudem immer von einer brillianten Cast getragen wird, aus.

In der Rolle des "Jean Valjean" steht erstmalig Patrick Stanke auf der Bühne, der über drei Stunden hinweg beweist, warum man keinesfalls eine bessere Besetzung für diese Rolle htäte finden können. Mit einem großen Gespür für die Handlungen und die Gedanken der komplexen Rolle meistert er die vermeintliche Herausforderung mit Brillanz und glänzt mit einer von Anfang bis Ende sichtlich durchdachten Interpretation des Charakters. Besonders die Entwicklung Valjeans in den unterschiedlichen Etappen seines Lebens und die damit verbundene Wandlung der Rolle von einem vebitterten und von dem Leid der Welt erschütterten Häftling zu einem selbstlos handelnden und liebenden Vater bringt Patrick authentisch auf die Bühne und füllt mit stimmgewaltigen Darbietungen musikalischer Eckpunkte der Geschichte, wie beispielsweise dem Klassiker "Bring ihn heim", das Theaterpublikum mit großen und vor allem ganz ehrlichen Emotionen.

Kevin Tarte verkörpert die Rolle des Polizeiinspektors "Javert", der nicht an das Gute im Menschen glaubt und von der Bösartigkeit Valjeans wie besessen zu sein scheint. Glaubwürdig präsentiert der Darsteller die immer wiederkehrende Konfrontation mit dem ehemaligen Häftling und die Entwicklung, die sich in jeder Begegnung der beiden Rollen abzeichnet. Kevin bringt mit all seinen  Schauspielkünsten dem Publikum den ganzen Hass und Zwang der Figur in der damaligen Zeit nahe, ohne dabei die eigentlichen Beweggründe für "Javerts" Handlungen aus den Augen zu verlieren. Mit einer unglaublichen Tiefe in der Stimme gelingt es ihm, der Rolle noch mehr Größe und distanzierte Erhabenheit zu verleihen, welche er jedoch auf der Suche nach der Menschlichkeit dieses Charakters immer mehr ablegt und schließlich auch in Form seiner gesanglichen Darbietung das versteckte Herz des Inspektors zum Vorschein bringen kann.


Milica Jovanovic lässt allabendlich mit ihrer warmen und gleichzeitig sehr kräftigen Stimme und ganz viel Herzblut die Rolle der "Fantine" auf den Brettern, die die Welt bedeuten, erblühen. Sie legt das gesamte Leid und die Verzweiflung, die das Leben der jungen Mutter in jeder Sekunde bestimmt, für die Zuschauer offen und spiegelt mit ihrem emotionalen Schauspiel gekonnt die Armut und das erdrückende Elend der Menschen zu der damaligen Zeit wider. Dem Zuschauer wird es durch dieses atemberaubende Schauspieltalent sehr einfach gemacht, mit dem traurigen Schicksal der Rolle mitzufühlen und gemeinsam mit ihr das ein oder andere Tränchen zu verdrücken.

Die Rollen des Liebespaars "Marius" und "Cosette" werden von Florian Peters und Daniela Braun gespielt, die besonders mit ihren klassischen Stimmen den tiefsinnigen Texten ein wenig Leichtigkeit verleihen. Nicht nur Daniela, auch Lasarah Sattler, die als "Eponine" auf der Bühne steht, harmoniert hervorragend mit Florian Peters. Das von den Beiden vorgetragene Duett "Der Regen fällt", in welchem so viel Ehrlichkeit in jedem einzelnen gesungenen Wort steckt, geht direkt ins Herz und ist ohne Zweifel einer der berührendsten Momente der gesamten Vorstellung.


Ein weiterer Publikumsliebling ist mit Sicherheit David Jakobs, der wie geschaffen für die Rolle des "Enjolras" ist. Mit sichtlicher Spielfreude stellt der Schauspieler den willensstarken und mitreißenden Anführer der Studentenbewegung dar und überträgt so seine gesamte Energie auch auf das Publikum. Die Zuschauer kleben ebenso wie die revolutionären Studentenkollegen auf der Bühne an seinen Lippen und folgen seinen Handlungen, was sicherlich auch Davids herausragender Bühnenpräsenz geschuldet ist. 

Bettina Meske und Jens Janke begeistern mit viel Sinn für Humor als Ehepaar "Thénardier". Im Gegensatz zu vielen anderen Charakteren dürfen diese beiden Darsteller ihre Rollen mit einer guten Portion Witz und Ironie füllen und so zwischen all den vergossenen Tränen auch für die nötigen Lacher im Zuschauerraum sorgen. Mit einem bewundernswerten Schauspieltalent gelingt es Bettina und Jens perfekt, die Figuren so fies, geldgierig und hinterlistig wie auch nur möglich zu präsentieren, ohne dabei jedoch übertrieben komisch zu wirken. Das Publikum honoriert diese unglaubliche Leistung an authentischem Schauspiel mit tosendem Applaus.


Ohne Frage, es gibt sehr viele Produktionen, die ohne ein begeisterungsfähiges Ensemble nicht möglich wären, aber ich glaube, selten hat man eine Inszenierung auf deutschen Bühnen erlebt, die so sehr von der Energie und der Präsenz des gesamten Ensembles gelebt hat, wie "Les Miserables". Bei dem großen Klassiker "Lied des Volkes", bei welchem diese einzigartige Stimmgewalt des riesigen Ensembles besonders im Mittelpunkt steht, scheint sich die Vielfalt an Stimmen förmlich zu einem einzigen Zauber zu vereinen und sich wie ein Schleier über den Zuschauerraum zu legen. Bei jedem einzelnen Ton spürt man als Zuschauer nicht nur die Gänsehaut, die sich von Kopf bis Fuß ausbreitet, sondern vor allem auch diese innere Freude, die durch den Enthusiasmus der großen Titel freigesetzt wird und einen jeden Zuschauer zu einer eigenen kämpferischen Haltung verleitet.


Nicht nur im Hinblick auf die erstklassige Besetzung der einzelnen Rollen haben die Freilichtspiele Tecklenburg wieder einmal bewiesen, warum sie zur absoluten Spitze der Musical - Veranstalter gehören, auch in puncto Kulisse haben sich die Macher nicht gescheut, ihre kreativen Ideen zu verwirklichen und - wie auch in den vergangenen Spielzeiten - den gesamten Veranstaltungsort mit allen Seitenbereichen der Bühne auszunutzen und passend in das Geschehen zu integrieren. In jedem noch so unbedeutsam erscheinenden Winkel gibt es etwas zu entdecken. Über, unter, vor, neben und auf der Bühne ist alles in Bewegung. Es werden kreative Ideen umgesetzt, um die französische Revolution möglichst realistisch darzustellen und den Zuschauern eine etwa dreistündige Zeitreise in die Vergangenheit zu ermöglichen. Obwohl man die in Tecklenburg bestechende Qualität ja bereits von all den vorangegangenen Produktionen kennt, ist es doch immer wieder aufs Neue faszinierend zu sehen, wie viel Liebe zum Detail in diesem Bühnenbild, welches schließlich an die Gegebenheiten eines Freilichttheaters angepasst sein muss, verarbeitet wurde und wie bei jeder einzelnen Inszenierung der Charme des Ambientes auf ganz neue Weise genutzt wird.


Die Freilichtspiele in Tecklenburg sind dank ihrer unverkennbaren Liebe zum Musical zu einem Vorreiter für Veranstalter in ganz Deutschland geworden. Hier wird nichts gekürzt, eingespart oder überspielt - hier gibt es zu 100% echtes Musical voller Leidenschaft, Emotionen und Harmonie. In jedem Jahr scheint der Veranstalter eine Show auf die Bühne zu bringen, die gelungener nicht hätte sein können und dennoch macht man das Unmögliche möglich: Man übertrifft sich immer wieder selbst!


Für die Qualität der Freilichtspiele sprechen nicht nur die Besucherscharen, die nach Tecklenburg strömen und der tosende Applaus am Ende jeder Vorstellung, auch die positiven Gefühle und Gedanken eines rundum gelungenen Abends, die die Zuschauer auf ihrem Weg Richtung Heimat begleiten, sind ein Zeichen dafür, dass Tecklenburg ein sehr nachhaltiges Ergebnis kreiert. Von einem Besuch dieser Vorstellung kann man noch Tage danach zehren, da dieses Meisterwerk, welches mit "Les Misérables" auf den Brettern, die die Welt bedeuten, gezaubert wurde, auch nach dem  Schlussapplaus in den Herzen der Besucher weiterlebt.
Musicalfans in ganz Deutschland haben geträumt vor langer Zeit von der Rückkehr dieses atemberaubenden Welterfolges und nun wurde der Traum Wirklichkeit und eines kann man ganz sicher versprechen: Das Ergebnis, welches nun aktuell auf der Tecklenburger Bühne präsentiert wird, ist eindrucksvoller als jeder Traum dieser Welt!

Fotos (c) Holger Bulk

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