Ein Streifzug durch eine bewegte theatrale Biografie - Im Interview mit Yascha Finn Nolting
Yascha Finn Nolting wuchs in der Nähe von Schwäbisch Hall auf und sammelte dort bereits in jungen Jahren Bühnenerfahrung bei den Festspielen. 2014 bis 2018 absolvierte er seine Schauspielausbildung an der Universität Mozarteum in Salzburg und verbrachte sein letztes Studienjahr im Rahmen einer Kooperation am Düsseldorfer Schauspielhaus - einem Theater, an das es den facettenreichen Künstler in späteren Jahren wieder hin zurückziehen sollte. Nach dem erfolgreichen Ende seines Studiums stand Yascha Finn Nolting in zahlreichen Produktionen auf der Bühne und etablierte sich als ausdrucksstarker Künstler an verschiedenen Spielstätten, wie beispielsweise dem Staatstheater Nürnberg. So stand er unter anderem in Inszenierungen, wie „Die Nibelungen“, „In 80 Tagen um die Welt“, „Don Karlos“ und „Woyzeck“ auf der Bühne. In der vergangenen Spielzeit bereicherte er „Die Märchen des Oscar Wilde erzählt im Zuchthaus zu Reading“ am Düsseldorfer Schauspielhaus und begeisterte als „Frank'N'Furter“ in der „Rocky Horror Show“ am Theater St. Gallen. Zuletzt war der sympathische Schauspieler zu Gast bei den Bad Hersfelder Festspielen, wo er in der Produktion „Die Räuber“ als „Karl von Moor“ zu sehen war und das dortige Festspielpublikum mit seiner Interpretation des Räuberhauptmanns in den Bann zog.
Ich hatte die große Freude und Ehre, mit Finn ein ausführliches Interview über sein künstlerisches Schaffen und seine Perspektive auf die Welt des Theaters führen zu dürfen. Im Folgenden erfahrt ihr nicht nur mehr über seinen Weg auf die Bühne sowie seine Zeit in Bad Hersfeld, sondern werft auch gemeinsam mit dem gebürtigen Württemberger einen Blick in die Zukunft und erhaltet Einblicke in seine anstehenden Engagements am Theater St. Gallen, wo der Schauspieler sowohl in der Wiederaufnahme der kultigen „Rocky Horror Show“ als auch in der Schweizer Uraufführung der „Legende von Sleepy Hollow“ zu erleben sein wird. Nun aber genug der Introduktion, lehnt euch zurück und taucht in ein höchst lesenswertes wie bereicherndes Interview ein. Vorhang auf und Bühne frei für Yascha Finn Nolting...
(c) BHF / S. Sennewald
Tatsächlich gibt es das Theater in seinen unterschiedlichsten Formen in meinem Leben schon seit ich denken kann. In der Grundschule spielte ich in der Ruine einer alten römischen Kaserne auf unserem Schulgelände den „Dicken Fetten Pfannkuchen“, später versuchte ich mich in vielen verschiedenen Laiengruppen, Schultheater-AGs und Jugendclubs. Ich habe sehr früh entdeckt, wie viel Spaß mir das Spielen bereitet und es hat mich bis heute nie losgelassen. Ich erinnere mich daran, als Kind wunderbar magisches Puppentheater in „Gerhards Marionettentheater“ in meiner Herkunftsstadt Schwäbisch Hall gesehen zu haben. Eine der ersten großen Shows, die ich als Kind sogar mehrfach besucht habe, war „Der König der Löwen“ in Hamburg. Von „Tanz der Vampire“ hatten wir eine CD im Familienauto, die ich immerzu rauf und runter hören wollte.
Bereits im Jugendalter standest du bei den „Freilichtspielen Schwäbisch Hall“ in deiner Heimat auf der Bühne. Welche Erinnerungen verbindest du mit dieser Zeit und welche Grundlagen hat dir diese Erfahrung bereits damals für deinen weiteren beruflichen Weg mitgegeben?
Für mich war das Theater in dieser Zeit förmlich meine Rettung. Vieles in meinem Leben damals war, sagen wir, nicht so einfach und die Chance, bei den Freilichtspielen in andere Welten abzutauchen und damit auch noch Geld zu verdienen, ermöglichte mir die Flucht in die Fantasie und gleichzeitig dringend benötigte finanzielle Unabhängigkeit. Ich denke sehr gerne an diese Zeit zurück. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt keine Ausbildung hatte, wurde ich von den Profis sehr wohlwollend aufgenommen. Ich konnte sehr viel von ihnen lernen, vor allem, dass Theater nie eine Solo-Show ist, sondern immer vom guten Umgang miteinander und der gemeinsamen Arbeit an einem Ziel lebt - vor und hinter der Bühne. Das war der gelebte Geist des Freilichtspiel-Ensembles damals und das hat mich sehr geprägt.
Deine Ausbildung hast du an der „Universität Mozarteum“ in Salzburg absolviert. Was waren in dieser Zeit deine größten Herausforderungen?
Nun, ich habe damals schnell gemerkt, dass ich aus der Provinz komme. Ich bin in kleinen Dörfern rund um Schwäbisch Hall aufgewachsen, kannte Laientheater, die Freilichtspiele, vielleicht auch mal ein Musical, wie „König der Löwen“, und dachte im jungen Leichtsinn, ich wüsste schon ziemlich gut Bescheid über „das Theater“. Dann stand ich da plötzlich zwischen lauter Kommiliton*innen aus Berlin und anderen Großstädten, die mit den renommiertesten Theatern der Bundesrepublik aufgewachsen waren und musste sehr schnell feststellen, wie wenig ich eigentlich Bescheid wusste über all die Facetten dieser Kunst. Alle sprachen ständig über berühmte Regisseur*innen und grandiose Inszenierungen, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte. Ich habe mich eine Weile gefühlt wie ein Bauerntrampel auf einem Hofball und wollte beispielsweise möglichst schnell Einschläge meines schwäbischen Dialekts loswerden, um meinen Hintergrund zu verschleiern - dieses Imposter Syndrome lässt mich manchmal bis heute nicht ganz los. Es hat eine Weile gedauert, bis ich diese Unsicherheit im Studium überwunden hatte. Alles in allem habe ich aber sehr gerne dort studiert und bin sehr froh über alles, was ich dort lernen durfte und über die Menschen, denen ich dort begegnet bin.
(c) Konrad Fersterer
In diesem Sommer warst du als „Karl von Moor“ in der Bad Hersfelder Inszenierung des Schiller-Klassikers „Die Räuber“ zu erleben. Was war dein erster Gedanke, als du von dem Vorhaben erfahren hast, das Werk aus der Feder Schillers mit den Liedern der „Toten Hosen“ zu kombinieren und welche kreativen Möglichkeiten haben sich durch die Arbeit an einer Uraufführung ergeben?
Anfangs war ich ehrlich gesagt skeptisch und hatte Sorge, dass die Textebenen sprachlich nicht zusammenpassen könnten, dass man als Zuschauer*in vor allem durch die Verschneidung weder der Musik- noch der Textebene richtig folgen könnte. Diese Sorge hat sich am Ende aber zum Glück nicht bestätigt und die Rechnung des Regisseurs Gil Mehmert ging voll auf - Schiller und „Die Toten Hosen“ ergänzen sich erstaunlich gut! Die Songauswahl hatte Gil bereits im Voraus getroffen, aber die Verschneidungen mit dem Stück sind erst während der Proben entstanden. Es war spannend, hier zu experimentieren und die Momente zu finden, in denen sich ein klassisches Drama mit Songs einer zeitgenössischen Punk-Band anreichern lässt. Und natürlich öffnen die Songs die Möglichkeit, die Emotionen der Figuren auf einer weiteren Ebene zu ergründen.
Lass uns einmal etwas genauer auf die figurale Persönlichkeit des Räuberhauptmanns eingehen. Die Figur zeichnet sich durch eine besondere Vielschichtigkeit aus. Gibt es Charakterzüge oder auch Entwicklungsmomente innerhalb der Geschichte, die du besonders bemerkenswert findest, und was würdest du Karl von Moor gerne fragen, wenn du die Möglichkeit hättest, ihn zu treffen?
Ich finde Karl von Moor eine schwer zu spielende Figur, denn auf der einen Seite ist er gebildet, idealistisch und rational, auf der anderen Seite aber sehr impulsgesteuert, abgründig und emotional. Oft stehen sich diese Eigenschaften in Stücken personifiziert gegenüber, hier sind sie aber in einer Figur vereint. Mal trifft Karl von Moor klare Entscheidungen nach einem wohl überlegten Plan und reflektiert die Konsequenzen seines Handelns, mal handelt er aus emotionalen Impulsen, wie Rache, Liebe, Sehnsucht, Verzweiflung oder Verletzung. Darum habe ich die Zerrissenheit zwischen beiden Welten gesucht: zwischen Rationalität und Emotionalität, zwischen Politik und Privatem, zwischen Pflicht und Liebe, zwischen Rache und Vergebung, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Karl wird in meinen Augen getrieben von dieser Zerrissenheit und reißt damit alle um sich herum mit in den Abgrund. Es gibt Momente, in denen er sehr egoistisch handelt, obwohl er ja nach außen hin eine fast schon Robin Hood’sche Gerechtigkeitshaltung vertritt. Da würde ich ihn zum Beispiel fragen, warum er nicht zuerst Kosinsky hilft, dessen Amalia aus den Armen des tyrannischen Fürsten zu befreien, nachdem dieser ihm seine Geschichte erzählt hat, statt diese Geschichte nur als Anlass zu nehmen, die eigene Amalia aufzusuchen. Da rückt bei ihm der Gerechtigkeitssinn immer wieder hinter den Eigennutz. Auch würde ich ihn fragen, ob es wirklich notwendig war, Amalia der Bande zu opfern, nur um dann mit der Bande zu brechen und sich der Justiz auszuliefern…
Das letzte Wochenende bei den Festspielen glich einer emotionalen Achterbahnfahrt.
Ihr habt nicht nur die Dernière der Show gefeiert, sondern hattet zugleich noch Besuch von niemand Geringerem als den „Toten Hosen“, die sich die Umsetzung ihrer Songs im Theatergewand angesehen haben. Und dann hast du schließlich noch bei der traditionellen Abschlussgala in der Stiftsruine den Zuschauerpreis für deine Darstellung des Räuberhauptmanns verliehen bekommen. Wie hast du dieses bewegende Wochenende erlebt und welche Erinnerungen haben sich bei all den besonderen Ereignissen eingebrannt?
Der Besuch der „Toten Hosen“ hat mich natürlich sehr gefreut und anfangs befürchtete ich noch, es würde mir vielleicht Angst machen, diese Songs vor ihren Machern zu singen, die Vorstellung selbst war für mich jedoch schlussendlich nicht aufregender als jede andere. Am Ende spielt man das Stück immer für ein zahlendes Publikum, dem ich in jeder Show meinen bestmöglichen spielerischen Einsatz liefern möchte. Die Jungs waren wirklich super nett und wir hatten eine schöne Feier und gute Gespräche miteinander. Interessant zu beobachten fand ich allerdings die Aufregung, die dieser Besuch in der Ruine und in der Stadt ausgelöst hat, die Menschentraube, die sich plötzlich stundenlang vor dem Bühneneingang sammelte.
Am emotionalsten war mit Abstand die letzte Vorstellung, da sie gleichzeitig auch den Abschied von diesem wunderbaren Team bedeutete. Ich habe das gesamte Ensemble und so viele Menschen hinter der Bühne sehr fest ins Herz geschlossen und die Erkenntnis, dass das alles nun zu Ende ging, war in diesem Moment nur schwer zu ertragen. Das war eigentlich das schönste Geschenk dieses Festspielsommers: So viel Zeit mit all diesen wunderbaren Menschen verbringen zu können. Über den Zuschauerpreis habe ich mich sehr gefreut und den Preisträger-Ring trage ich mit einem gewissen Stolz, aber er hat lange nicht den Wert dieser kostbaren Begegnungen.
(c) BHF / S. Sennewald
Was sind in deinen Augen die Zutaten für das Erfolgsrezept dieser Produktion und wie stehen deiner Meinung nach die Aussichten für eine Wiederaufnahme dieser besonderen Inszenierung?
Ich glaube, diese Inszenierung lebt von einer Atem- und Rastlosigkeit, von einer Energie, welche Zuschauende und Figuren zugleich geradezu überrollt, von der Sprachgenauigkeit, der dynamischen Verschneidung des Textes mit den Songs und von der hohen Emotionalität. Aber die wichtigste Zutat ist definitiv das hervorragende Ensemble, in dem alle - ohne Ausnahme - immer alles gegeben haben, auf Augenhöhe, kollegial und in höchstem Maße professionell. Wir haben vor jeder Probe und vor jeder Vorstellung ein gemeinsames Warm-Up gemacht und sehr aufeinander Acht gegeben. Nur so konnte alles in dieser Inszenierung so ineinander greifen, ohne all diese großartigen Menschen wäre das niemals ein solcher Erfolg geworden. Und natürlich hatte auch Gil Mehmert eine entscheidende Rolle, denn er hat nicht nur dieses Ensemble zusammengestellt und die Musik mit dem Text verschmolzen, sondern auch das Stück mit unglaublicher Genauigkeit und einem guten Gespür für diese herausfordernde, riesige Bühne zu einem Ganzen zusammengefügt. Über die Wiederaufnahme kann auch ich nur spekulieren, da weiß ich leider nicht mehr als alle anderen. Kommendes Jahr wird es wohl nicht sein, wie der Spielplanvorstellung der neuen Intendantin Elke Hesse kürzlich zu entnehmen war.
Im Rahmen der Festspiele hast du mit Intendant Joern Hinkel zusammengearbeitet, der mit dem Ende dieser Saison sein Amt in Bad Hersfeld niedergelegt und damit zugleich tiefe Spuren bei Künstlern, Mitarbeitern sowie Zuschauern hinterlassen hat. Wie hast du die Zusammenarbeit erlebt und was hat für dich den Geist der Festspiele unter Joern Hinkel ausgemacht?
Joern ist ein wirklich feiner, kluger und warmherziger Mensch mit viel Geduld und einer fast schon grenzenlosen Menschenliebe. Bei den Proben und auch in anderen Zusammenhängen hat er nie den Chef raushängen lassen, er war immer interessiert an einem guten Miteinander und immer sehr wertschätzend im Umgang mit allen Mitarbeitenden. Dieser Geist hat sich auf die gesamten Festspiele übertragen. Die Zusammenarbeit mit ihm war sowohl in seiner Rolle als Intendant als auch als Schauspielkollege sehr angenehm. Ihm liegt eine Kunst, die frei von Zwängen und Vorgaben wirken kann, sehr am Herzen. Ich bin traurig, dass ich ihn erst dieses Jahr in seiner letzten Bad Hersfelder Spielzeit kennengelernt habe, aber auch sehr dankbar, dass wir überhaupt die Gelegenheit hatten.
Ende des Jahres kehrst du im Rahmen einer Wiederaufnahme des Theaters St. Gallen in die Rolle des „Frank N‘ Furter“ in der „Rocky Horror Show“ zurück – eine Figur von besonderer Exzentrik – und begeisterst das Schweizer Publikum aufs Neue mit dem skurrilen Kultmusical. Was macht für dich den Reiz dieser Show und insbesondere natürlich dieses Charakters aus?
Ein besonderer Reiz ist natürlich die Interaktion mit dem Publikum. Es ist schon ein ganz besonderes Gefühl, wenn das Publikum mit Zwischenrufen, Wasserpistolen und Konfetti Teil der Show wird. Mit dem tollen Regisseur Christian Brey verbindet mich bereits eine längere Zusammenarbeit, seine Inszenierungen sind immer geprägt von einer großen Lust am Unsinn, am Slapstick und vor allem: am grenzenlosen Spaß. Die Rocky Horror Show ist dafür grandioses Futter, grenzenlos und grenzüberschreitend. So auch die Figur des Dr. Frank N’ Furter - er changiert zwischen den Geschlechtern, zwischen Boshaftigkeit und der Sehnsucht nach Liebe und Nähe, zwischen Zuckerbrot und der sprichwörtlichen Peitsche, zwischen Mensch und Außerirdischem. Diese Grenzen auszuloten und auch zu überschreiten, koste ich in vollem Maße aus. Auch in St. Gallen haben wir ein tolles Ensemble und ich freue mich jetzt schon sehr auf die Wiederaufnahme.
(c) Tanja Dorendorf
Zuvor kann sich das theaterbegeisterte Publikum jedoch auf die Bühnenumsetzung der „Legende von Sleepy Hollow“ freuen. Ihr steckt gerade mitten in den Proben für die Schweizer Erstaufführung. Was kannst du uns bereits über dieses Stück verraten? Was erwartet die Zuschauer bei einem Abstecher in die USA des 19. Jahrhunderts?
Wir sind natürlich gerade noch mitten im Prozess und da ist manches noch nicht absehbar. Die Geschichte ist sowohl inspiriert von Washington Irvings berühmter Kurzgeschichte als auch von Tim Burtons ikonischer Verfilmung. Der Lehrer Ichabod Crane kommt in das abgelegene Sleepy Hollow, um seinen dort verschollenen Kollegen zu vertreten. Schon sehr bald wird ihm klar, dass in dem Ort seltsame Dinge vor sich gehen. Die Bewohner*innen glauben an Übernatürliches, angeblich treibt der Geist eines kopflosen hessischen Söldners dort sein Unwesen. Der Rationalist Ichabod Crane versucht, den Vorgängen auf den Grund zu gehen und gerät dabei mit einer Gesellschaft in Konflikt, die unter dem tyrannischen Joch einer Sagengestalt lebt und sich allem Neuen verweigert. Es wird hoffentlich schaurig, skurril und lustig, es wird düstere Songs geben und im besten Fall wird es eine Parabel über ein Amerika, in dem eine kopflose Gesellschaft sich aus Angst der Realität verweigert und in Abschottung verfällt.
Neben deinen schauspielerischen Engagements arbeitest du auch als Sprecher und hast unter anderem bereits an dem Hörbuch „Eingeschlossene Gesellschaft“ mitgewirkt. Inwiefern erfordert diese Tätigkeit ebenfalls ein spielerisches Herangehen, obwohl das Produkt letztlich ausschließlich auditiv wahrgenommen wird?
In letzter Zeit arbeite ich als Sprecher vor allem viel in den Bereichen Werbung und Synchronisation von Filmen und Games. Natürlich ist die Arbeit im Tonstudio eine andere, da im Endprodukt nur die Stimme eine Rolle spielt. Einerseits kann das von Vorteil sein, da man durch das Verändern der Stimme eine Vielzahl von Figuren spielen kann, die beim Hinzukommen der visuellen Ebene schwerer authentisch darzustellen sind. Es ist wesentlich leichter, sich nur mit der Stimme älter oder jünger zu machen, als wenn die Illusion zusätzlich durch Kostüm, Maske und Körperhaltung erzeugt werden muss. Aber gerade weil der Körper zum Transportieren von Emotionen fehlt, muss dieser manchmal umso stärker eingesetzt werden, damit es authentisch bleibt. Das führt mitunter zu absurden Situationen, wenn man alleine in einem Aufnahmeraum steht, Regie und Tontechniker*innen teilweise unsichtbar auf der anderen Seite einer Glasscheibe und man beispielsweise mit Kopfhörern über den Ohren auf der Stelle herumhüpft, um Springen oder Atemlosigkeit in der Stimme herzustellen. Ich habe selten so viel geschwitzt wie bei stundenlangen Tonaufnahmen für ein Game aus der Battlefield-Reihe, danach war ich
tagelang völlig hinüber.
Was ist das Wertvollste, das dir die Arbeit auf der Bühne geschenkt hat?
Das Theater hat mir einen sicheren Hafen, ein Zuhause geschenkt. Mit all seinen wundersamen Menschen, die dort arbeiten, ist es ein unglaublich wertvoller, für mich fast schon heiliger Ort und stiftet mir Sinn.
Karl von Moor kostet es viel Mut, sein bisheriges Leben notgedrungen hinter sich zu lassen und einen neuen Weg zwischen moralischen Graustufen einzuschlagen. Was
bedeutet der Begriff „Mut“ für dich ganz persönlich in deinem Leben?
Mut bedeutet für mich, auch das Verletzliche, das Ambivalente, die Unsicherheit auszuhalten, Schwäche zuzulassen. Das ist wirkliche Stärke. Es ist nicht mutig, keine Ängste zu haben, sondern sich für bestimmte Dinge einzusetzen, obwohl man Angst dabei hat. Es ist mutig, Fehler einzugestehen und sich angreifbar zu machen. Darum braucht man mitunter sehr viel Mut, um zu lieben - denn gerade in der Liebe, sowohl in Freundschaft als auch in der Partnerschaft, liefert man sich vollkommen der Verletzlichkeit aus.
(c) Konrad Fersterer
Mit deiner Rede bei der Abschlussgala der Festspiele hast du deutliche Worte für die aktuellen gesellschaftlichen sowie kulturellen Entwicklungen gefunden und auf beeindruckende Weise über Menschlichkeit und Freiheit gesprochen. Was wünschst du dir von der deutschsprachigen Theaterszene der kommenden Jahre? Wo siehst du Entwicklungspotenzial und welchen Wert haben Kunst und Kultur in einer Zeit der Schnelllebigkeit und des gesellschaftlichen Wandels?
Ich will hier lieber über das Theater sprechen statt über Kunst im Allgemeinen, denn diese Kunstform ist mir die vertrauteste. Das Theater hat sich in den letzten Jahren immer intensiver mit Gerechtigkeitsfragen beschäftigt, mit Diskriminierung in kulturellen Institutionen, mit Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, mit dem Umgang miteinander im Arbeitskontext. Und das ist richtig so. Vieles hat sich schon sehr verbessert, vieles ist dagegen noch ausbaufähig. Allerdings müssen wir Theaterschaffende auch aufpassen, dass wir uns nicht zu viel mit uns selbst beschäftigen. Diskursblasen sind überall ein Problem, in sozialen Gruppen, auf Social Media, in unserem Berufsfeld. Einerseits ist es wichtig, sich kritisch mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen, andererseits braucht das ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz. Wenn ich mich in den Dörfern aufhalte, aus denen ich komme, hat das, was wir da manchmal im Theater besprechen, vielleicht auf einer intellektuellen Ebene mit den Leuten zu tun - oft berührt es sie aber nicht, weder inhaltlich noch emotional. Die Stärken des Theaters sind aber doch gerade das Berührt-Werden, die Unmittelbarkeit, das Emotionale, das Staunen, die Ästhetik, die Fantasie. Und es ist ein Ort, an dem alles sein darf: die Utopie und die Dystopie, das Schöne und das Hässliche, das Gute und das Böse, Licht und Schatten, das Klischee und dessen Gegenthese und alles dazwischen. Es wäre schade, wenn wir Kulturschaffenden uns hier selbst einschränken, aus Angst, etwas „Falsches“ zu erzählen. Auf der anderen Seite ist Kunstfreiheit kein Freifahrtschein für den rücksichtslosen Umgang mit Mitmenschen und deren Geschichten. Hier den Spagat zu finden und dabei wach und offen zu bleiben, ist die schwierige, aber auch schöne Aufgabe unseres Berufs. Da braucht es Mut sowie die Fähigkeit, sich Konflikten zu stellen.
Zudem werden die öffentlichen Orte, an denen Menschen regelmäßig zusammenkommen, um gemeinschaftlich Freizeit im nicht-virtuellen Raum zu verbringen, immer weniger. Darum glaube ich, dass Orte wie das Theater eigentlich immer wichtiger werden müssten - als demokratischer Raum der analogen Auseinandersetzung, der realen Interaktion, der ästhetischen Konfrontation. Auch das Theater ist schnelllebig und vergänglich, darin liegt ja gerade das Besondere. Aber es ist eine andere Schnelllebigkeit als die des digitalen Raums, der in meinen Augen anonym, distanziert, einsam und oberflächlich ist, der Diskurse verkürzt und einer ständigen Verwertungs- und Selbstdarstellungslogik unterliegt. Und der immer offensichtlicher unsere Demokratie erodieren lässt. Theater in seiner Höchstform ist für mich das genaue Gegenteil: öffentlich, unmittelbar, gemeinschaftsstiftend, tiefgründig und seit der Antike Ausdruck eines demokratischen Grundgedankens. Und es geht in allererster Linie eben nicht um die Selbstdarstellung, sondern um das empathische Spazierengehen in teils fremden Gedankenwelten. Und genau darum ist das Theater unbedingt erhaltungswürdig.
Schnellfragerunde:
- Lieblingsbuch? - Donna J. Haraway: „Staying with the Trouble (Unruhig bleiben)“ und Édouard Louis: „Das Ende von Eddy“
- Eine Inszenierung reizt dich, wenn…? - sie Spaß, Tiefgang und Bühnenmagie verspricht
- Die größte Motivation an anstrengenden Tagen? - Tolle Kolleg*innen und die Gewissheit, den für mich schönsten Beruf ausüben zu dürfen
- Die letzte Produktion, die dich als Zuschauer rundum fesseln konnte? - „Wir sind das Volk“ von Luise Voigt und Eva Bormann am Nationaltheater Weimar
- In diese Rolle würdest du gerne irgendwann einmal zurückkehren… - Marquis von Posa aus „Don Karlos“ von Friedrich Schiller
Herzlichen Dank für dieses tiefgründige, inhaltsstarke und unglaublich sympathische Interview, lieber Finn! Deine Antworten geben nicht nur interessante Einblicke in dein Wirken auf der Bühne, sondern regen zum Nach- und Weiterdenken an und verleihen dem besonderen Wert des Theaters sprachlich Plastizität. Vielen lieben Dank für deine Offenheit und für deine Mühe! Ich bin schon jetzt ganz gespannt, auf welche Bühnen dieser Welt dich dein weiterer beruflicher Weg verschlagen wird.
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