Das Herz sieht viel mehr als Augen je seh'n - Zauberhaftes Gespräch mit Frohnatur Holly Hylton

Holly Hylton ist aus der deutschen Musicalszene schon lange nicht mehr wegzudenken. Sie wuchs in Dallas auf, aber zog 1995 nach New York City. Sie verzauberte das amerikanische Publikum mit verschiedenen Engagements, bevor es sie schließlich nach Deutschland zog. Hier war sie unter anderem in "Elisabeth" und "Sister Act" zu erleben. Einen weiteren Meilenstein auf ihrem Berufsweg stellte ohne Frage die Produktion "Das Phantom der Oper" dar, in welcher sie unter anderem als Cover "Madame Giry" auf der Bühne stand. Diese Rolle begleitete sie auch über das Engagement hinaus, denn auch in dem Musical "Liebe stirbt nie", aus der Feder Andrew Lloyd Webbers, verkörperte Holly die strenge Ballettlehrerin. Zuletzt war sie in der Hamburger Inszenierung des Musicals "Kinky Boots" als "Trish" zu sehen. In dem nachfolgenden Interview verrät uns die lebensfrohe Künstlerin mehr über ihre Engagements in den Hamburger Theatern und nimmt uns mit auf eine kleine Reise in die Vergangenheit. Was macht Holly Hylton heute? Wie hat sie die letzten Monate beruflich sowie privat erlebt? 
Viel Freude mit diesem bunten, offenen und äußerst sympathischen Gespräch...!

      Wann hast du die Welt des Musicals für dich entdeckt und entschieden, dass du gerne selbst auf der Bühne stehen möchtest?

Ich wurde im dritten Schuljahr in "Ludwig (The Dog Who Snored Symphonies)" als Hund gecastet, von da an hat es mich auf die Bühne gezogen. 

      Du hast bereits in zahlreichen Produktionen mitgewirkt. Gibt es einen Moment auf oder hinter der Bühne, welcher dir in all diesen Jahren besonders in Erinnerung geblieben ist?

Als ich mit einer ausschließlich amerikanischen Cast mit der Produktion "Grease" auf Tour war, hatten wir ein Gastspiel im Deutschen Theater München. Während einer Put-In Probe passierte das Attentat auf die Twin-Tower in New York und ich erinnere mich, wie wir uns auf der Seitenbühne versammelt und den zweiten Tower haben fallen sehen. Das ist die prägnanteste und unangenehmste Erinnerung. Der prägnanteste Moment im positiven Sinne war der erste Curtain-call für eine meiner Swing-Positionen in der Produktion "Das Phantom der Oper". Das war schon immer ein großer Traum von mir. Der imposante Kronleuchter, das Orchester im Orchestergraben von der Bühne aus zu sehen und zu hören…ein Traum, der wahr geworden ist. Das sind immer ganz besondere Momente. 

Unter anderem warst du in der deutschen Inszenierung des Musicals „Kinky Boots“ zu erleben. Wie hast du persönlich den Probenprozess für dieses Stück empfunden und kannst du dich noch an deine Premiere in Hamburg erinnern?

Ich war die letzte Darstellerin, die zur Cast von "Kinky Boots" dazugestoßen ist. Ich habe im Prinzip für mich alleine geprobt. Ich hätte zwar zwei bis drei Wochen proben sollen bevor meine erste Show angesetzt war, doch bereits vorher - ich glaube, es war ein Donnerstag - war abzusehen, dass es am Wochenende aufgrund von Krankheit, etc. zu Besetzungsproblemen kommen würde. Also wurde ich gefragt, ob ich schon am Freitag eine Show spielen könnte. Ich sah mich dem noch nicht gewachsen, da ich zu dem Zeitpunkt weder den ersten noch den zweiten Akt mit der gesamten Cast geprobt hatte und noch nicht ein einziges Mal einen gesamten Durchlauf hatte proben können. Schließlich war es Freitag und nach wie vor konnte keiner mit mir üben, da alle in der Show waren. Da das Wochenende nah war, ergriff ich die Initiative und habe - während der Show- mit Hilfe des Tons aus den Monitoren im Ballettsaal meinen eigenen Durchlauf gestartet und die gesamte Aufführung inklusive Kostümwechseln für mich alleine geprobt, um sicher zu sein, dass alles funktioniert. Am Samstag war es dann soweit und ich musste die Matinee spielen. Ich war so aufgeregt und nervös, hatte große Angst, dass etwas schief geht und fühlte mich unvorbereitet wie nie zuvor. Doch mit der Hilfe meiner wunderbaren Kollegen hat es funktioniert. Aber dieser Tag war definitiv sehr nervenaufreibend. Hinzu kam, dass die Freitagabendshow, die ich eigentlich schon hätte spielen sollen, voller Fans im Publikum war, es gab nach der Show eine Art „Fan-event“; und ich wollte in dem „unvorbereiteten“ Zustand meine Premiere definitiv nicht vor einer Menge von Fans spielen, die die Show von vorne bis hinten kennen. Das wäre so, als würde man nackt auf die Bühne gehen. 

      Was hat deiner Meinung nach den besonderen Charme dieser Show ausgemacht und welche ist für dich die wichtigste Botschaft, die dieses Stück transportiert hat?

Ich glaube, mein liebster Aspekt des Musicals ist, dass es das Individuum Mensch so zelebriert - die Einzigartigkeit eines jeden. Ich arbeite viel mit der Meisner-Methode, in der es heißt „DU bist dein bestes Instrument“. Und die Show vermittelt die Botschaft, dass du dich und andere, egal wie, wer oder „was“ du bist/ andere sind, feiern und akzeptieren darfst: "Be who you wanna be, celebrate your life triumphantly". Es ist keine Show über Drag-Queens, wie manche es denken, sondern eine Botschaft, dass wir alle wunderbar sind wie wir sind. 

Auch in dem Erfolgsmusical „Das Phantom der Oper“ hast du mitgewirkt. Welche Erinnerungen verbindest du mit dieser Zeit?

Als das "Phantom der Oper" das erste Mal in Hamburg aufgeführt wurde, habe ich einen Freund besucht. In dem Zusammenhang habe ich den musikalischen Supervisor Kristen Blodgette getroffen. Ich durfte einen Durchlauf der Show sehen, den sie dirigiert hat und ihre Dynamik war so fesselnd, dass ich wusste, mit ihr möchte ich unbedingt einmal arbeiten. Also war alleine schon die Möglichkeit, mit ihr zu arbeiten, ein Traum, der in Erfüllung gegangen ist. Und die Musik... es war ein Kindheitstraum, im "Phantom der Oper" spielen zu dürfen. Da ich ein Swing war, hatte ich die Chance, die Show oft zu erleben, ohne selber auf der Bühne zu sein. Also habe ich mich immer mal wieder während der Shows in den Orchestergraben begeben und das Stück und die Musik aus verschiedensten Perspektiven gesehen und gehört, habe mich neben unterschiedliche Instrumente gesetzt und konnte die Vielschichtigkeit dadurch noch mehr genießen. Neben den Momenten auf der Bühne gehört das zu einer meiner liebsten Erinnerungen. Es war einfach etwas ganz Besonderes.  

      Sowohl in dieser Produktion als auch in der Show „Liebe stirbt nie“ hast du die Rolle der „Madame Giry“ gecovert. Was war es für ein Gefühl, diese Figur in beiden Geschichten „begleiten“ zu dürfen und inwiefern hat sich deine Interpretation der Rolle während dieser Engagements auch verändert bzw. weiterentwickelt? 

Es ist etwas so Wertvolles, das ich erfahren durfte - "Madame Giry" sowohl in dem Original als auch in der Fortsetzung spielen zu dürfen. Als ich das erste Cover bekam, wurde mir gesagt, ich sähe eigentlich noch zu jung aus, um diese Rolle zu spielen. In „Liebe stirbt nie“ ist Madame Giry zehn Jahre älter und hat noch mehr an Komplexität und Intensität dazu gewonnen, weswegen es eine noch größere Ehre für mich war, auch dieses Cover zu bekommen und verkörpern zu dürfen. Im ersten Teil ist "Madame Giry" zwar immer präsent und wichtig, jedoch durch ihre Verschlossenheit eher passiv und im Hintergrund. Im zweiten Teil hat sie mehr zu gewinnen und mehr zu verlieren, ist engagierter, obszessiver und zeigt sich insgesamt mehr, wird zu einer Schlüsselfigur. Sie ist noch komplizierter geworden, als sie es ohnehin schon war. Und ich liebe es, komplizierte Charaktere zu spielen. Ich weiß, das "Phantom" ist nicht für jeden etwas, aber ich kann sagen, dass ich jederzeit wieder in diesem Stück spielen würde - meinetwegen auch für den Rest meines Lebens. 

      Wie hast du das vergangene Jahr erlebt? Hattest du während der vergangenen zwölf Monate noch einmal die Möglichkeit, auf einer Bühne zu stehen oder dich eventuell in bestimmten Bereichen weiterzubilden?

Das letzte Jahr war sehr schwer und vor allem zu Beginn angsteinflößend. Ich war zu dem Zeitpunkt ausschließlich freiberuflich tätig. Zwar habe ich unter anderem die Kinder in dem Musical „Tina“ unterrichtet, jedoch als Selbstständige und nicht mit Vertrag, also prinzipiell ohne Sicherheit. Entsprechend hatte ich keine sicheren Einnahmen. Im Januar habe ich bereits eine „Meisner with Music“ Masterclass unterrichtet, ebenso im März. Nach unserer ersten Session nahm das Coronageschehen jedoch überhand und wir trafen die Entscheidung, dass es sicherer ist, uns an dem nächsten Montag nicht in Präsenz zu treffen. Um jedoch den Kurs fortsetzen zu können, kam die Idee auf, es online zu versuchen. Und das hat erstaunlich gut funktioniert. Inzwischen hat es sich zu einem monatlichen Angebot entwickelt, das ebenfalls „Meisner with Monologues“, „Meisnering YourSelf“ mit meiner Kollegin Sonia Farke und „Meet&Greets“ mit Funktionären aus der Branche (Castingdirektoren, Choreografen, etc.) umfasst, in denen meine Schüler die Möglichkeit haben, diese in einem privaten und geschützten Rahmen kennenzulernen. Seit Freitag, den 13.03.2020, habe ich kein Theater mehr von innen sehen können, auf der Bühne habe ich seitdem auch nicht mehr gestanden. In dem gesamten Jahr durfte ich mich auf zwei große Auditions vorbereiten, vor allem beim zweiten Mal fühlte es sich so gut an, wieder etwas zu erarbeiten und zumindest das Gefühl zu haben, dass wir bald wieder auf der Bühne stehen dürfen. Nach der Tanzaudition - während des zweiten Lockdowns - konnte ich nicht anders als zu weinen, weil ich gemerkt habe, wie sehr ich das alles vermisst habe. Ich kann es also nicht erwarten zurückzukehren, die Möglichkeit zu haben, wieder im Theater zu sein…aber bis es soweit ist, unterrichte ich weiter, arbeite an mir selbst, singe für mich, lerne und bleibe kreativ. 

      Du bietest Gesangsstunden und Coachings an und arbeitest mit angehenden Darstellern zusammen. Zuletzt hast du mit den Kinderdarstellern des Musicals „Tina“ zusammengearbeitet. Was gibt dir das Unterrichten persönlich und welche neuen Impulse kannst du vielleicht auch aus der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ziehen?

Es ist sehr inspirierend und motivierend und ich bin sehr dankbar, sehen zu dürfen, wie meine Schüler mit dieser Zeit umgehen, an sich arbeiten, wachsen und nicht aufgeben. Das ist mir eine Ehre. Ich versuche, jeden auf die Art zu erreichen, die er oder sie versteht, in ihrer eigenen Sprache zu sprechen und die individuellen Nuancen zu finden. Menschen wirklich zu hören und ihnen zuzuhören macht mich zu einem besseren Schauspieler und meinem Empfinden nach auch zu einem besseren Menschen. Vor der Zeit bei "Tina" habe ich noch nicht mit Kindern gearbeitet. Das kam zustande, weil mich der Abendspielleiter der Show fragte, ob ich mich in der Lage sehen würde, das Unterrichten der Kinder zu übernehmen, wenn "Kinky Boots" - wo er für die Kinder zuständig war - abgespielt sei. Zunächst zögerte ich, da ich zu dem Zeitpunkt nur Profis im Erwachsenenalter unterrichtet hatte. Da ich jedoch selbst eine Tochter habe, wusste ich mit Kindern umzugehen. Die Herausforderung im Vergleich zu dem Unterrichten von Erwachsenen ist, dass man nicht ungefiltert und so direkt sein kann, wie ich es zuvor gewohnt war. Man muss sich kreative Wege ausdenken und viel improvisieren, um mit Spaß zum „Ziel“ zu gelangen. Aber neben der Herausforderung ist es eine so inspirierende Tätigkeit, die ich nicht zuletzt durch meine Kollegin Ronja Petersen, von der ich gelernt habe, meine Technik und auch meine Persönlichkeit so anzupassen, dass das Unterrichten von Kindern wunderbar funktioniert, genießen kann. Die Kinder sind so pur, fröhlich und wissenshungrig und sie auf ihrem Weg von der ersten Probe bis zu dem Schritt auf die große Bühne begleiten zu dürfen ist einfach wunderbar. Außerdem bin ich im Managementteam von StageCoach Hamburg-Mitte tätig, eine Schule, in der wir Kindern auf hohem Niveau das nahebringen dürfen, was uns antreibt und ihnen “Creative Courage for Life” geben. 

i     Gibt es eine Traumrolle, die du unbedingt einmal spielen möchtest?

Ohne Zweifel „Jen“ aus dem Zwei - Personen Stück „John & Jen“ von Andrew Lippa und Tom Greenwald. Ein Kollege hat mich 1999 im Tourbus die CD hören lassen und seitdem bin ich verzaubert. Ich hoffe, dass es einmal jemand in Deutschland produziert und mich castet. Vielleicht kann ich "The English Theatre of Hamburg" dazu bewegen. Die Musik ist simpel und zugleich genial. Es geht um ein Geschwisterpaar bestehend aus Schwester und Bruder, später dann Mutter und Sohn und das Konzept und die Geschichte sind einfach wunderschön. 

Hast du in beruflicher oder persönlicher Hinsicht ein Vorbild?

Ich habe immer schon zu zwei wunderbaren, starken Frauen aufgesehen, die beide viel zu früh aus dem Leben geschieden sind. Marin Mazzie und Rebecca Luker. Sie waren meine „Musicalrole-models“ und bis heute inspiriert mich ihre Arbeit. Aber mein persönliches und professionelles „role-model“ ist Sally Wilfert. Sie ist eine Freundin von mir, wir haben uns in einem Kurs von Craig Carnelia kennengelernt und dann gemeinsam studiert, haben begonnen gemeinsam zu singen und wir sind sehr gute Freunde geworden. Sie ist eine unwahrscheinlich begabte Sängerin und Schauspielerin und noch dazu eine wundervolle Person. 

      Was bedeutet der Begriff "Glück" für dich persönlich?

Das ist die schwerste Frage von allen, finde ich. "Glücklich" klingt wie so ein kleines Wort, doch für mich hat es eine große Bedeutung. Es bedeutet für mich, tun zu können, was ich liebe - beruflich und privat… Früher: Mit meiner sogenannten "Framily" - der von mir gewählten Familie bestehend aus wunderbaren Freunden - zusammen sein zu dürfen. Als ich dann meinen Ehemann traf, war es die Möglichkeit, mit meinem Seelenverwandten zusammen sein zu dürfen und nun ist es unsere viereinhalb Jahre alte Tochter, die für mich die Definition von "Glück" ist. Sie ist voller Energie, schläft im Prinzip nie, aber ist einfach pure Freude -meistens. Was sie lebt und tut ist das, was ich inzwischen als Glück definiere. Es ist lustig, denn im Prinzip sind es all diese Dinge in einem, aber wenn ich mich auf eines fokussieren muss, dann ist es, sie "leben" zu sehen - ich liebe es!


Schnellfragerunde: 

Lieblingsbuch? - "The Power of Now" (Eckhart Tölle)

Lebensmotto? - YES 

Dafür bin ich besonders dankbar - Gesund zu sein und die besten “wacky, insane, creative, gorgeous, one of a kind” Freunde und Familie zu haben. 

Motivation an anstrengenden Tagen? - Ein viereinhalbjähriges menschliches Wesen…

Traumreiseziel? - Malediven & Neuseeland

Herzlichen Dank für dieses herrliche Interview, liebe Holly! Es war mir eine große Freude, gemeinsam mit dir einen Blick auf einzelne Station deines bisherigen Werdegangs werfen zu dürfen. Alles Gute für deinen weiteren Lebensweg! Ich wünsche dir viel Stärke für die aktuellen Herausforderungen und hoffe, dass man sich ganz bald einmal wieder im Theater sehen wird.


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