Das kann nur "Ku'damm 56" - Ein bewegender Streifzug durch das Berlin der 50er Jahre

Berlin: Bundeshauptstadt seit 1990, die bevölkerungsreichste Stadt der Europäischen Union, knapp vier Millionen Einwohner und hinter jedem einzelnen Gesicht verbergen sich persönliche Annekdoten, Schicksale und Wünsche. Kaum eine Stadt ist mit so viel geschichtlichem Hintergrund angereichert wie dieser Landstrich. Schlendert man heute durch die Straßen der Großstadt, ist es kaum vorstellbar, dass dort vor 40 Jahren noch eine die Stadt beherrschende Mauer stand, die Ost und West teilte und die heute so vielschichtige Stadt in zwei Hälften zerbrach. Doch die Historie hat ihre Spuren hinterlassen und auch im 21. Jahrhundert erzählt Berlin noch seine kleinen und großen Geschichten aus der Vergangenheit. Seit November 2021 ist Deutschlands Hauptstadt nun um ein Erlebnis reicher, das Einwohner und Berlinbesucher in die Historie der Großstadt entführt und mit viel künstlerischer Raffinesse Bilder aus einem Berlin des vergangenen Jahrhunderts erblühen lässt. Die Rede ist von der neuen Musicalsensation "Ku'damm 56", die aktuell die Besucher des Theater des Westens allabendlich begeistert und sie zu einer Reise durch die Zeit einlädt. Beteiligt an der Entstehung dieser neuen Inszenierung waren unter anderem Annette Hess, Peter Plate und Ulf Leo Sommer sowie Regisseur Christoph Drewitz, dessen Stücke bislang immer durch eine sehr eindrucksvolle Handschrift geprägt waren. Klar, dass ich mir "Ku'damm 56" da natürlich auch keinesfalls entgehen lassen konnte und was soll man sagen: Die Produktion ist besonders, einzigartig, ja einfach kaum in Worte zu fassen... doch bevor ich zu sehr ins Schwärmen gerate, widmen wir uns zunächst einmal der Story, die sich an den Handlungsabläufen der als Vorlage dienlichen ZDF - Serie orientiert. 

(c) Jörg Hartmann / Dominic Ernst

Berlin 1956, der Krieg hat seine Spuren in den Familien hinterlassen, viele Männer sind aus dem Kampf nicht zurückgekehrt und das Land wird von politischen und menschlichen Spaltungen dominiert. In dieser Zeit wachsen Monika, Helga und Eva Schöllack in der familiengeführten Tanzschule "Galant" zu jungen Frauen heran, die langsam aber sicher beginnen, auf eigenen Füßen zu stehen und sich nach einem Partner für den vor ihnen liegenden Lebensweg umzusehen - ganz so, wie es die Gesellschaft von ihnen erwartet. Naja, zumindest auf zwei der Geschwister trifft diese Beschreibung zu. Monika hingegen kann sich mit den Rollenerwartungen einer Frau nicht anfreunden, ihr liegt die Arbeit im Haushalt nicht, sie ist nicht auf der ständigen Suche nach einem Ehemann, den sie umsorgen kann und alles in allem scheint sie einfach vollkommen talentlos zu sein - zumindest, wenn man den Ansichten ihrer Mutter, Caterina Schöllack, Glauben schenken darf. Den ersten Moment eines ehrlichen Zuspruchs empfindet Monika schließlich in Gegenwart von Musiker Freddy, der ihr ein Leben abseits der konservativen Vorstellungen Caterinas zeigt.
Im Gegensatz zu ihrer Schwester, gelingt es Helga und Eva fortwährend, die Erwartungen ihrer Mutter zu erfüllen und schon bald läuten auch die ersten Hochzeitsglocken im Hause Schöllack. Doch der Schein vom perfekten Eheglück trügt, denn jede der drei Schwestern wird mit ihren ganz persönlichen Hindernissen konfrontiert und lange versteckte Wahrheiten kommen ans Licht, die das Leben aller verändern sollen. Schwere Vergangenheiten und erschütternde Hintergründe prallen aufeinander und lassen den Zuschauer eine emotionsgeladene Reise in das Berlin der 50er Jahre erleben.

(c) Jörg Hartmann / Dominic Ernst

Diese kurze Zusammenfassung kann nur erahnen lassen, was sich alles hinter der Geschichte von "Ku'damm 56" verbirgt, denn die Produktion steckt voller kleinerer und größerer Überraschungen und entpuppt sich als eine unvergleichlich temporeiche Show, die immer wieder verschiedene Blitzlichter auftauchen lässt, die das Publikum schließlich zu einem großen und vielschichtigen Puzzle zusammensetzen muss. Die Szenen folgen Schlag auf Schlag - es bleibt keine Zeit zum Verschnaufen, denn eine bewegende Sequenz geht nahtlos in die nächste über.

Erzählt wird die Geschichte von einer ganz herausragenden Cast, die dieses Musical mit der Kraft eines sich nahezu blind verstehenden Ensembles über den Abend hinweg trägt. Ich liebe Shows, bei denen man merkt, dass eine ganz fantastisch zusammenwirkende Einheit auf der Bühne steht, die selbst einen unglaublichen Spaß am Geschichtenerzählen hat und dies trifft auf die Berliner Ku'damm - Cast voll und ganz zu.

Die Rolle der "Monika" verkörpert Sandra Leitner, der dieses Engagement wie auf den Leib geschnitten scheint. Sie kann innerhalb dieser Rolle wunderbar aufblühen und mit schauspielerischer Cleverness sowie stimmgewaltigen Gesangsmomenten überzeugen. Authentisch durchlebt die Künstlerin auf der Bühne eine Wandlung von der unscheinbaren, ein wenig tollpatschigen grauen Maus hin zu einer starken Frau, die für ihre Wünsche einsteht und sich mit jedem Entwicklungsschritt selbst ein wenig besser kennenlernt. Besonders gut gelingt ihr dabei der schauspielerische Spagat zwischen der vor allem zu Beginn in der Figurengestaltung stark verankerten Situationskomik und der Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit, die diese ausdrucksstarke Rolle auf ihrem Weg fordert. Dank ihres gelungenen Schauspiels fällt es nicht schwer, mit dem zunächst sehr unbeholfen wirkenden Charakter zu sympathisieren und sich in die Protagonistin, die sich ihrer eigenen Stärke erst sehr spät bewusst wird, einzufühlen.

Vanessa Wilček stand an diesem Abend als strenge Mutter und Tanzschulbesitzerin "Caterina Schöllack" auf der Bühne und präsentierte die Figur mit viel schauspielerischem Talent und einem guten Gespür für die Emotionsgewalt, nach der diese Rolle verlangt. Glaubwürdig trat sie dem Publikum als konservativ verankerte, oftmals gedanklich noch in vergangenen Zeiten lebende Frau entgegen, die aufgrund der von ihr geforderten Stärke und Standhaftigkeit zunehmend unnahbarer wird und ihr Herz mit Mauern umgeben hat. Vanessa gelingt es brillant, eine Mischung aus Strenge und emotionaler Kälte gepaart mit dem stetig kurzen Aufblitzen von sehr menschlichen und bisweilen hilflos wirkenden Zügen auf die Bühne zu bringen. Trotz aller Härte, die dieser Charakter fordert, verliert die Schauspielerin zu keiner Zeit den Blick für das Innenleben und die Verletzlichkeit der Figur. Besonders schön zu sehen sind dabei die kleinen Momente, in denen sich Caterina ein klein wenig mehr öffnet und aus den selbst geschmiedeten Ketten ausbricht.

(c) Jörg Hartmann / Dominic Ernst

Die Rolle des "Freddy" verkörpert David Jakobs mit der von ihm gewohnten schauspielerischen und stimmlichen Brillianz, mit der er den Zuschauer jedes Mal wieder aufs Neue für seine Rollen begeistert. Auch in dieser Produktion gelingt es ihm meisterhaft, den forschen Charakter, der sich an nichts und niemanden binden möchte und seine wahren Emotionen aus Angst vor der eigenen Verletzlichkeit oftmals überspielt, zum Leben zu erwecken. Dabei leitet der Künstler durch die gesamte Geschichte und eröffnet die Show bereits mit einem stimmgewaltigen Auftritt, der seine gesanglichen Qualitäten aufzeigt. David verleiht der Rolle eine wunderbare Leichtigkeit, die jedoch niemals vollständig die schwere Vergangenheit Freddys und seine sichtbaren sowie unsichtbaren Wunden überdeckt und dabei herausragend die Ambivalenz des jungen Rebellen beleuchtet.  Momente der künstlerischen Freiheit und Unbekümmertheit werden gekonnt mit Freddys schwarzen Schatten der Vergangenheit verwoben und so wird der Besucher mit einem vielschichtigen Charakter bekanntgemacht, welcher auf der stetigen Suche nach seinem Platz in der Welt ist. 

David Nádvornik spielt die Rolle des Joachim Franck, Sohn eines Waffenfabrikanten, und ist dabei mit keiner leichten Aufgabe betraut, denn diese Rolle verlangt einem Darsteller sein gesamtes schauspielerisches Können ab. Joachim ist ein innerlich völlig zerbrochener Mann, der an den gesellschaftlichen Erwartungen seines Vaters zunehmend zugrundegeht und sich in Ausbrüchen von Aggression, Verzweiflung und Melancholie verliert. David meistert diese schauspielerische Herausforderung großartig und beeindruckt den Theaterbesucher von der ersten Minute an mit seinem schauspielerischen Facettenreichtum. Er gibt sich der Figur die gesamte Vorstellung über vollkommen hin und durchlebt authentisch ihre emotionalen Höhen und Tiefen. Gesanglich überzeugt David ebenfalls auf ganzer Linie mit stimmgewaltigen Auftritten und insbesondere mit der emotionsgeladenen Präsentation von "Ich will nicht werden wie mein Vater", bei der man förmlich an den Lippen des Sängers hängt, zieht er das Publikum in seinen Bann. Ihm gelingt es grandios, die Gefühle der Rollenfigur auf die Zuschauer zu übertragen und zugleich niemanden zu nah an das zerrüttete Innenleben des unglücklichen Fabrikantensohnes heranzulassen, sodass der Charakter immer auch einen nicht greifbaren Zug innehat.

(c) Jörg Hartmann / Dominic Ernst

In der Rolle der sittsamen, wohlerzogenen Tochter "Helga" stand an diesem Abend Shari Lynn Stewen auf den Brettern, die die Welt bedeuten, und ließ eine äußerst gelungene und warmherzige Interpretation der Figur erblühen, die stets versucht, den Erwartungen anderer gerecht zu werden und sich zu einer tadellosen Ehefrau zu mausern. Die Künstlerin bringt eine überzeugende Darbietung der pflichtbewussten Frau auf die Bühne, die ihr persönliches Glück stets den Ansprüchen und Forderungen der Gesellschaft unterordnet und immer bemüht ist, den Schein eines perfekten Ehelebens nach außen hin zu wahren - auch, wenn es in der Beziehung zu Ehemann Wolfgang stark kriselt. Shari verkörpert den Charakter sehr authentisch und schafft eine äußerst lebendige, menschliche Figur mit ihren ganz eigenen Stärken und Schwächen, die immer bemüht ist, es all ihren Mitmenschen recht zu machen und dadurch oftmals von einer überfordernden Situation in die nächste schlittert.

Komplettiert wird die Frauenriege der Familie Schöllack von der jüngsten Tochter "Eva", der Darstellerin Isabel Waltsgott Leben einhaucht. Mit ihr wurde die ideale Besetzung für diese Rolle gefunden, denn Isabel vermag es, die Rolle mit ihrer Präsenz auf der Bühne auszufüllen und ein vielschichtiges Bild dieser jungen Frau zu erschaffen, das den Zuschauer in manchen Momenten mit ihr sympatisieren und ihn manchmal auch von ihren Ansichten und Entscheidungen irritiert zurücklässt. Eva ist zwischen Vernunft und Intuition oftmals hin- und hergerissen. Sie möchte dem konservativ tradierten Bild ihrer Mutter entsprechen und fühlt sich durch deren Prägung dazu veranlasst, sich in erster Linie mit Menschen zu umgeben, die eine hohe gesellschaftliche Position innehaben. Titel und Ansehen sind für sie von besonderer Bedeutung, doch zugleich wird sie auch immer wieder mit ihren innersten Gefühlen für einen Mann konfrontiert, der so gar nicht den familiären Vorstellungen entspricht. Diese innere Zerrissenheit zwischen Verstand und Gefühl vermittelt die Künstlerin äußerst glaubhaft. Auch gesanglich kann Isabel glänzen und den Songs ihre ganz persönliche Note geben.

Weiterhin bleibt der Auftritt von Dennis Hupka an diesem Tag als besonders beeindruckend im Gedächtnis. Er verkörpert die Rolle des jungen "Wolfgang", Ehemann von Helga, mit seiner ganzen schauspielerischen Kraft sowie Leidenschaft und erzählt dem Publikum sehr eindrücklich die Geschichte eines jungen Mannes, dessen Emotionen nicht mit den gesellschaftlichen Erwartungen konform gehen. Wolfgang verbirgt ein großes Geheimnis, das Dennis behutsam nach und nach weiter öffnet und dem Zuschauer sowie seiner Ehefrau gegenüber transparent werden lässt. Dabei berührt vor allem die Darbietung des Titels "Ein besserer Mensch", im Rahmen dessen es dem Künstler wunderbar gelingt, all den Schmerz der Figur aufleben zu lassen und den Theaterbesucher für diesen verzweifelten, sich ständig im Kampf gegen sich selbst befindenden Charakter zu gewinnen. Zu dieser grandiosen Präsentation trägt nicht zuletzt Dennis unverkennbare Stimme bei, mit der er auch vor den größten gesanglichen Höhen nicht zurückschreckt.

Thorsten Tinney überzeugt in der Rolle des Tanzlehrers " Fritz Assmann", der besondere Gefühle für Caterina Schöllack hegt und ständig um ihre Gunst kämpft. Charmant wirbt Thorsten als Liebhaber der alten Schule um die standhafte Tanschulbesitzerin, die seinen Wunsch nach Verbundenheit jedoch immer wieder abwehrt. Dabei greift er auch stets als vermittelnde Instanz in das sich auflösende Familienleben der Schöllacks ein und versucht, zwischen Mutter Caterina und Tochter Monika zu vermitteln. 

(c) Jörg Hartmann / Dominic Ernst

Rudi Reschke steht als Joachims hartherziger Vater "Otto Franck" auf der Bühne und lässt den Charakter des verbitterten, skrupellosen Mannes mit seinem schauspielerischen Talent gekonnt aufleben. Inbrünstig weist er seinen Bühnensohn unaufhörlich zurecht und kritisiert seine Vorliebe für die Schriftstellerei und die damit verbundene schöpferische Ästhetik entschieden. Der Künstler glänzt durch seine autoritäre Ausstrahlung, mittels derer er es dem Zuschauer nicht schwer macht, den Waffenfabrikanten Franck und seine schonungslosen Worte und Taten zu verurteilen. Einen besonderen Höhepunkt schafft er mit der pointierten Darbietung des Songs "Zügellos", die das Publikum des 21.Jahrhunderts fassungslos und mit offenen Mündern dasitzen lässt. Doch bei aller menschlichen Härte dieser Figur, kann Rudi mit seinen kurzen Auftritten als "Onkel Heiner" aus Dubendorf ebenso für besonders humorvolle Augenblicke innerhalb der Show sorgen und seine künstlerische Vielfalt und Wandelbarkeit unter Beweis stellen.

Den von Eva angehimmelten Arzt "Prof. Fassbender" präsentiert Holger Hauer, der mit seiner schauspielerischen Qualität ebenfalls auf ganzer Linie zu überzeugen vermag. Er interagiert sehr gekonnt mit Bühnenpartnerin Isabel Waltsgott und es macht große Freude, den beiden Figuren bei ihrer zweifelhaften Annäherung zuzusehen. Trotz des Unterhaltungswertes dieser Interaktion, verliert Holger auch nicht den Blick für den düsteren Kern und die schwarze Vergangenheit des Arztes, die in der Zeit des Nationalsozialismus wurzelt. Für den Zuschauer wird schnell transparent, wie geschickt der Professor in seinem alltäglichen Leben die Augen hinsichtlich seiner dunklen Vergangenheit verschließt und welch große Angst er hat, dass dieses Geheimnis ans Licht kommen könnte. Wie zahlreiche andere Figuren ist auch "Prof. Fassbender" stets darum bemüht, den Schein einer makellos geordneten Zeit zu wahren.

(c) Jörg Hartmann / Dominic Ernst

Das Musical lebt von der Vielzahl an einzigartigen Bühnen-Charakteren und der Begegnung der Zuschauer mit den persönlichen Geschichten dieser. Aufgrund dieses Zusammenspiels an besonders facettenreichen Figuren gäbe es noch zahlreiche weitere Künstler*innen, die in ihrer schauspielerischen, gesanglichen und tänzerischen Qualität in dieser Rezension hervorgehoben werden müssten. So beispielsweise Florian Heinke, der als "Mutter Brause - Sänger" neben einer großartigen stimmlichen Leistung als Sinnbild des damaligen Zeitgeistes der Nachkriegsjugend beeindrucken konnte. Auch Patrik Ciesliks schauspielerische Leistung, mittels derer er die Figur des Maurers "Rudi" zum Leben erweckte, war mehr als überzeugend. 
Das Ensemble tritt als eine sehr stimmgewaltige, energiegeladene Einheit auf, die den Zuschauer mit viel künstlerischer Raffinesse für sich einnimmt und den Saal in jeglicher Hinsicht zum Beben bringt. Blickt man in die Gesichter der Castmitglieder sieht man in den Augen eines jeden Einzelnen die Freude an der Darbietung dieser Geschichte, die sich ganz natürlich in den Zuschauersaal überträgt.

Einen Punkt, der diese Show ohne Frage zu einer ganz besonderen Produktion macht, stellt die musikalische Linie dar, die ganz unterschiedliche Stile miteinander verknüpft und von operettengleichen Tönen bis Rock'n'Roll so ziemlich alles auf dem höchsten Niveau abdeckt. Die Songs von Peter Plate und Ulf Leo Sommer gehen ins Ohr und ans Herz und haben das Potenzial,  eine gewaltige Menge an Gefühl und Tiefe zum Publikum zu transportieren. Besonders sticht dabei in meinen Augen die große Ensemblenummer "Was wäre wenn" heraus, in der verschiedene musikalische Ausschnitte, die den einzelnen Figuren zugeordnet sind, miteinander verflochten werden und ein bewegendes Gesamtwerk schaffen. Die Titel lösen starke und sehr differente Emotionen im Zuhörer aus und berühren insbesondere durch sehr schöne, bildhafte Texte voller stilistischer Mittel und Assoziationen. 

(c) Jörg Hartmann / Dominic Ernst

Natürlich fällt auf, dass versucht wurde, sehr viel Handlung aus dem ZDF - Dreiteiler in das Musical einfließen zu lassen, sodass eine sehr rasante Produktion entstanden ist, die sich mit ihren blitzschnell aufeinanderfolgenden Sequenzen einer anderen Erzählart bedient als es die meisten Stücke tun. Der Zuschauer muss die Geschichte sehr aufmerksam verfolgen, um einzelne Stränge miteinander verbinden und auch auf die eingestreuten kleinen Hinweise achten zu können. Der Besuch der Inszenierung gleicht beinahe dem Durchblättern eines alten Fotoalbums, das anhand ganz unterschiedlicher Ausschnitte eine vergangene Geschichte aufleben lässt und den Betrachter fordert, auch seine ganz individuellen Erinnerungen an und Assoziationen mit dieser Zeit einzubringen. 
Aufgrund dieses ganz besonderen Erzählstils kommt die Produktion ohne ein opulentes Bühnenbild aus - die Künstlerinnen und Künstler tragen die Geschichte ihrer Figuren ganz allein durch ihre körperliche und stimmliche Präsenz. Dennoch kann das Bühnenbild, das sich inbesondere durch große verspiegelte Flächen sowie eine bewegliche Decke auszeichnet, begeistern, denn die Ansätze der Kulisse sind  künstlerisch ausgefeilt und projizieren das Innenleben der Charaktere. Wenn die einzelnen Figuren drohen, von ihren Gefühlen erdrückt zu werden, wird dies über bühnentechnische Elemente sehr eindrucksvoll visualisiert, sodass bei genauerer Betrachtung schnell auffällt, wie viel Raffinesse in dieses minimalistisch wirkende Bühnenbild gesteckt wurde.

(c) Jörg Hartmann / Dominic Ernst

Die Umsetzung der bekannten Geschichte um Familie Schöllack und die Tanzschule Galant auf der Bühne ist großartig geglückt - die Show ist außergewöhnlich, fesselnd und hoch emotional. Mit viel Fingerspitzengefühl wurde sich an eine schwere und geschichtlich belastete Thematik gewagt und ein authentisches Abbild der vom Krieg geprägten Gesellschaft gezeichnet, die ihren Weg aus der verstaubten Vergangenheit in eine mondänen Zukunft sucht. Die Inszenierung ist so atmosphärisch, ungeschönt und realistisch gefärbt, dass es teils wirklich schwerfällt, die erzählten Sequenzen und Komflikte der Figuren auszuhalten. Dennoch haben die Produzenten es hervorragend verstanden, eine ausgewogene Balance von emotionaler Schwere und humorvoll angereicherten Momenten der Leichtigkeit zu schaffen, die das Lebensgefühl der 50er Jahre glaubhaft verkörpert.
Der Zuschauer wird von dem Gesamtkunstwerk "Ku'damm 56" förmlich vereinnahmt und begibt sich mit völlig verschiedenen Figuren, die einen alle auf ihre eigene Art bewegen, auf eine prägende Reise in das Berlin des vergangenen Jahrhunderts. Ich glaube, dass gerade diese Produktion dafür prädestiniert ist, sich mehrfach diesem Stück hinzugeben und stets neue Details zu entdecken. Das Musical wirkt in seiner Intensität sehr lange nach und begleitet das Publikum nicht nur mit diversen Ohrwürmern durch die nachfolgenden Tage. 
Kaum eine Show sorgt für so viel Gesprächsstoff, nicht jeder Moment ist leicht zu greifen und manchmal ist nicht alles in "schwarz" oder "weiß" einzuteilen - man wird mit jeder Szene mehr daran erinnert, manchmal auch hinter die Fassaden einer Person zu blicken, die oftmals als Schutz des wahren Kerns dienen. Das Musical lebt von seiner einzigartigen Dynamik, geht ganz tief ins Herz und gestaltet sich so vielfältig wie Berlin selbst. 

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