Zeppelin - Ein Höhenflug des Musicals über die Grenzen des Theaters hinweg

Träume bewegen uns Menschen seit eh und je. Was wäre die Welt ohne Wünsche, Sehnsüchte und Visionen, die danach rufen, in die Tat umgesetzt zu werden? Im Festspielhaus Füssen ist aktuell eine Produktion zu erleben, die das Träumen in vielerlei Hinsicht in den Mittelpunkt stellt. Vor 85 Jahren wurde aus einem ehemals großen Lebenstraum ein wahrer Albtraum, als das Passagierluftschiff "Die Hindenburg" am 6.Mai 1937 in Flammen aufging. Von einem Moment zum anderen wurde aus einer Vision eine riesige Katastrophe, die viele Menschen das Leben kostete. Die tragische Geschichte um diesen großen Traum vom Fliegen und die schrecklichen Entwicklungen im Jahre 1937 bringt das Musical "Zeppelin" in Füssen auf die Bühne. Doch das Stück entspringt nicht nur der damaligen Sehnsucht Graf Zeppelins, sondern hätte auch ohne den Traum des Komponisten Ralph Siegel niemals das Licht der Theaterwelt erblickt. Mit Füssens neuer Produktion erfüllt sich der namhafte Komponist nicht nur seinen persönlichen Wunsch, ein großes Musical auf die Bretter, die die Welt bedeuten, zu bringen, sondern schenkt dem Publikum zugleich eine bewegende Reise in fremde Zeiten, die dazu anregt, niemals die eigenen Träume zu vergessen. 

"Zeppelin" erzählt eine Geschichte bestehend aus zwei Handlungssträngen, die miteinander verwoben werden. Zum einen wird die Lebensgeschichte von Ferdinand Graf von Zeppelin präsentiert, die seinen Weg vom kleinen Jungen, der vom Fliegen träumt und ganz fasziniert von Maschinen ist, hin zum Begründer der Luftschifffahrt, der für die Realisierung seiner Vision so manche Hürde überwinden muss, aufzeigt. Zugleich lernt der Zuschauer eine Vielzahl unterschiedlicher Passagiere der "Hindenburg" kennen - ihre Hintergründe sind different, doch letztlich teilen sie auf der einschneidenden Fahrt des Luftschiffs alle das gleiche Schicksal. Das Publikum begibt sich auf eine bewegende Reise mit all den verschiedenen Charakteren, lernt mit ihnen, leidet mit ihnen, lebt mit ihnen und begleitet sie durch ein schicksalhaftes Abenteuer. Erzählt wird die Geschichte mit Retrospektiven, sodass man zwischen verschiedenen Zeitspannen wechselt und sich die einzelnen erzählerischen Handlungsstränge erst in ihrer Gesamtheit zu einem großen Puzzle zusammenfügen. Besonders auffällig ist dabei, dass die Szenen an einzelne Schlaglichter erinnern - immer wieder wird der imaginäre Scheinwerfer auf einen anderen Handlungsort sowie auf andere Akteure gerichtet. Trotz dieser erzählerischen Komplexität wird es dem Zuschauer recht leicht gemacht, in die Geschichte einzutauchen und auf den Spuren der unterschiedlichen Charaktere zu wandeln. Eine großartige Cast nimmt den Besucher buchstäblich an die Hand und entführt ihn in die Welt des 19. und 20. Jahrhunderts. 

In der Hauptrolle des Grafen von Zeppelin begeistert Tim Wilhelm, dem es dank seiner besonderen Präsenz auf der Bühne scheinbar mühelos gelingt, durch die Lebensgeschichte des Grafen zu führen. Über den Abend hinweg entwickelt der Künstler die Rolle vom jungen, begeisterten Ferdinand von Zeppelin hin zu einem alternden Menschen, an dem immer wieder die Selbstzweifel nagen. Authentisch durchlebt er in der Rolle des Grafen eine Achterbahnfahrt der Emotionen zwischen umjubeltem Wunderkind und vermeintlichem Versager und lässt den Zuschauer Einblicke in sein Innenleben erhaschen. Die schauspielerische Leistung kombiniert Tim mit einer charakterstarken Stimme, die insbesondere das Lied "Ich hab gelebt" zu einem ergreifenden Höhepunkt der Show erwachsen lässt, welcher im Zuschauerraum für so manche Gänsehaut sorgt.
Zudem harmoniert er wunderbar mit Spielpartnerin Stefanie Gröning, die die Rolle der Gattin "Isabella" hingebungsvoll verkörpert. In toll arrangierten Duetten geben sich die beiden Darsteller gegenseitig den nötigen Raum, ihre individuellen Stimmen zu entfalten und eine Harmonie aus Zerbrechlichkeit und Stärke zu formen.

Mit viel schauspielerischer Raffinesse erweckt Martin Berger die Rolle des "Friedrich Graf von Zeppelin" zum Leben und kreiert eine gütige Vaterfigur, die dem Zuschauer aufgrund einer besonderen Herzenswärme, die der Schauspieler dem Charakter zukommen lässt, ans selbige wächst. Doch nicht nur die schauspielerische Feinarbeit, auch die gesanglichen Passagen sind von viel Wärme erfüllt und so gelingt es Martin Berger ab dem ersten Auftritt, den Zuschauer in den Bann einer wunderbar erzählten Figur zu ziehen.

Besonders begeistern kann zudem Mathias Edenborn in der Rolle des Pianisten "Paul Stiller", der auf seiner Reise mit der Hindenburg die ganz große Liebe entdeckt und in der Sehnsucht nach Nähe und Verbundenheit aufgeht. Mit einer wunderbaren Detailverliebtheit schleicht sich der Künstler als liebenswürdiger junger Pianist in die Herzen des Publikums. Ganz besonders beeindrucken kann Mathias dank grandioser gesanglicher Momente, in denen er seine stimmliche Brillianz zu zeigen vermag. Mit sanften Tönen umhüllt der Darsteller die Theaterbesucher und entlockt ihnen mit den darauffolgenden stimmgewaltigen Passagen ein kollektives Staunen. 

Angelika Erlacher stand an diesem Abend als Sängerin "Emmy Berg" auf der Bühne, die sich aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln gezwungen sieht, aus dem deutschsprachigen Raum zu fliehen, und bei der Überfahrt die Gelegenheit nutzt, die Passagiere auf ihrer Reise nach Amerika mit ihrem künstlerischen Talent zu unterhalten. Mit viel Hingabe fühlt sich Angelika in die Rolle ein, sodass ihr die Balance zwischen innerer Unsicherheit und Sorge bezüglich der in Europa stetig aufziehenden Wolken eines politischen Umbruchs sowie der sich bei Auftritten auf die Passagiere des Luftschiffs übertragenden Energie exzellent gelingt. Mit dem hervorragend arrangierten Song "Wiener Roulette" erhält die Sängerin die Möglichkeit, die stimmlichen Facetten ihrer Gesangskunst zu zeigen und den Zuschauer gesanglich mit auf eine Reise in das Europa Anfang des 20. Jahrhunderts zu nehmen.


Einen weiteren Höhepunkt der Show bilden sicherlich die Auftritte von Josefien Kleverlaan, welche mit schauspielerischer Perfektion sowie viel Fingerspitzengefühl für die ambivalente Gefühlswelt der Figur den Charakter der "Lilli van Hoeven" aufleben lässt. Die Künstlerin besitzt auf der Bühne eine herrlich positive und einnehmende Ausstrahlung, sodass man förmlich an ihren Lippen hängt und sehr schnell mit der Figur der jungen, aufstrebenden Schauspielerin sympathisiert. Zudem verzaubert Josefien mit einer phänomenalen Stimme, die sowohl in den Solo-Parts als auch in den mit ihren Bühnenpartnern vorgetragenen Duetten durch ihre wundervolle Farbe besticht.

Besonders einprägsam trat an diesem Abend Florian Soyka auf, dem die große Aufgabe zuteil wurde, die Figur des überzeugten Nationalsozialisten "Lutz Grivius" zu verkörpern. Diese Herausforderung löste er dank seiner schauspielerischen Qualität scheinbar mühelos. Ausdrucksstark bringt der Darsteller eine ausgereifte Darbietung des ideologiebesessenen, machthungrigen Doktors auf die Bühne, die es dem Zuschauer sehr leicht macht, sich bildlich gesprochen von der Figur und ihren extremen Überzeugungen abzuwenden. Florians Schauspiel geht unter die Haut und lädt die Szenen mit einer Spannung auf, die sich auf den Zuschauer überträgt und ihn bei Auftreten der Figur immer wieder zusammenzucken lässt.

In der Rolle der "Kathy Wigman" begeistert Holly Hylton mit einer äußerst authentischen Darbietung der amerikanischen Journalistin. Aufgrund ihrer sichtbaren Spielfreude sowie der positiven Ausstrahlung, die Holly in den Theatersaal aussendet, fällt es dem Publikum nicht schwer, mit der weltoffenen Journalistin zu sympathisieren. Die Künstlerin bringt über weite Strecken sehr viel Sonnenschein und amerikanisches Show- Temperament auf die Bühne, doch auch die tiefgründige, zweifelnde und einfühlsame Seite Kathy Wigmans kommt in Hollys Darstellung einer empathischen und zugewandten Zeitgenossin mehr als glaubwürdig zum Ausdruck.

Die Figur der Pferdezüchterin "Hanna Keller", eine weitere Passagierin der Hindenburg, verkörperte an diesem Abend Maria Meßner, die damit zugleich ihre Premiere in der Rolle feierte. Maria weiß mit ihrer glockenhellen Stimme und gesanglichen Sicherheit zu überzeugen und schafft ganz besondere intime Momente auf der Bühne, in denen aus kleinen Gesten und zarten Tönen ganz große Augenblicke erwachsen können. Diese künstlerischen Qualitäten zeigen sich auch und insbesondere in einem für die Figur sehr tragischen und schicksalhaften Moment, den Maria schauspielerisch mit ehrlicher Emotion auszufüllen vermag.

Stefanie Kock gelingt es, in gleich zwei wunderbar von ihr gespielten Rollen zu begeistern. Zu Beginn der Vorstellung erschafft die Darstellerin eine sehr liebevolle Interpretation der Rolle von Ferdinands besorgter Mutter, während sie im weiteren Verlauf der Show mit viel Energie und Bühnenpräsenz die Figur der "Rosalie Cagney" mimt. Dabei wirbelt die Künstlerin schwungvoll über die Bretter, die die Welt bedeuten, und bringt den Saal nicht nur dank des von Familie Cagney so geliebten Glanzes und Glamours zum Strahlen. Perfekt harmoniert Stefanie dabei mit Spielpartner Chris Murray, der mit seiner unglaublich kraftvollen und beeindruckenden Stimme ohne Frage das Maximum aus der Figur "Jim Cagney" herausholt. Sobald der Sänger zu den ersten Tönen ansetzt, breitet sich im Zuschauerraum eine musikalische und emotionale Wärme aus, die direkt ins Herz trifft.

Besonders hervorheben muss man an dieser Stelle die Kinderdarsteller Felix Lang, Emma Meixner, Johannes Ott und Yoni Rona, die  ihren "großen Bühnenpartnern" in nichts nachstehen. Jung an Jahren gelingt es den vier angehenden Künstlern mit Leichtigkeit, den Theaterbesuchern eine Geschichte zu erzählen und sie mit auf die Reise der Entwicklung ihrer Charaktere zu nehmen. Sowohl auf gesanglicher als auch auf schauspielerischer Ebene geben sie hundert Prozent und sprühen förmlich vor Spielfreude.

Das Stück ist unglaublich stark besetzt. Ein großer Auftritt reiht sich an den nächsten und die Bühne wird von der Darbietung einer hoch motivierten Cast erfüllt. Insbesondere fällt dabei die hohe Anzahl an Darstellern auf, die durch den Abend führen. Über 50 Künstlerinnen und Künstler erschaffen gemeinsam ein großes Werk und lassen künstlerische Brillianz aufblitzen. Der Umfang des Ensembles lässt die Zuschauer staunen und schafft ein Gesamterlebnis voller Stimmgewalt, von dem jeder Theaterliebhaber sonst nur träumen kann. Die Momente, in denen so viele talentierte Sängerinnen und Sänger gemeinsam ein Kunstwerk erschaffen, führen uns Zuschauern deutlich vor Augen, warum wir Musicals so lieben. Bei einer solchen stimmlichen Kraft durchströmen das Publikum in den großen Ensembleszenen wahre Glücksgefühle und den Theaterbesucher erfüllt eine absolute Dankbarkeit, dass man einfach wieder gemeinsam Kunst genießen und feiern kann.
Aufgrund der Vielzahl an Darstellern ist es - trotz der hervorragenden Leistung aller - leider nicht möglich, alle Akteure einzeln hervorzuheben, doch es sei an dieser Stelle gesagt, erst das harmonische Ensemble schafft es, die Vorstellung abzurunden. Künstler, wie Alexander Kerbst, Jens Rainer Kalkmann, Michael Thurner, Claus Kupreit und Mave O'Rick bewegen die Menschen im Theatersaal mit ihren ernsten, humoristisch angehauchten oder auch hoch emotional aufgeladenen Auftritten und veredeln gemeinsam mit dem Gesangs- und Tanzensemble die Leistung der bereits genannten Darsteller.

Was hinsichtlich der personellen Besetzung des Stücks bereits anklingt, setzt sich auch auf optischer und akustischer Ebene fort. Bei der Inszenierung dieser Produktion wurde in ganz großen Dimensionen gedacht. Der Zuschauer wird visuell mit einem wahren Bühnenspektakel konfrontiert, das sich an all dem bedient, was man sich in einem Theatersaal vorstellen kann. Natürlich soll an dieser Stelle nicht zu viel über die zahlreichen bühnentechnischen Überraschungen verraten werden, aber insgesamt lässt sich hier die Handschrift ganz großer Visionäre der Musik- und Theaterwelt erkennen. Ob in der Luft, am Boden oder auch im Zuschauerraum, überall gibt es bei der Inszenierung etwas zu entdecken. Vor allem der an den Zielort der Passagiere angepasste amerikanische Charme fließt in die optische Gestaltung der Show ein. An mancher Stelle mag diese Opulenz Geschmackssache sein, doch grundsätzlich spiegelt die detailverliebte Ausstattung der Show eine hohe Qualität wider und beweist einen dahinter verborgenen Ideenreichtum, der das Theatererlebnis zu etwas ganz Besonderem macht. 
Auch in die Kompositionen ist viel Liebe geflossen. Das Musical wird ganz klar von den musikalischen Arrangements getragen und die Handlung wird hauptsächlich durch die von Ralph Siegel komponierten Titel fortgeführt. Die Musik der Produktion kann als äußert facettenreich beschrieben werden. Von beeindruckend atmosphärischen Nummern bis hin zu witzgeladenen, schwungvollen Songs bedient sich das Arrangement an der gesamten zur Verfügung stehenden musikalischen Palette. Sowohl die im Duett vorgetragenen Nummern als auch die Solopartien der einzelnen Künstler gehen wunderbar ins Ohr und bleiben auch, nachdem der letzte Vorhang des Abends gefallen ist, noch hängen.

Es macht große Freude, die Figuren auf ihrer Reise zu begleiten und einen bunten Abend in hohen Gefilden zu erleben. Aufgrund der Tatsache, dass der Zuschauer mit so vielen unterschiedlichen Charakteren und Lebensgeschichten konfrontiert wird, kann er die verhängnisvolle Reise der Hindenburg aus zahlreichen Perspektiven miterleben und zwischen den einzelnen Kabinen "umherwandern". An mancher Stelle hätte man sich gewünscht, noch stärker die Entwicklung der einzelnen Figuren begleiten zu dürfen, was aufgrund der Vielzahl an handelnden Personen mitunter nur am Rande möglich war. Dennoch ist es aufgrund der klugen Umsetzung der Inszenierung und natürlich der einnehmenden Leistung der Darstellerinnen und Darsteller gut gelungen, eine Nähe zu den einzelnen Charakteren zu schaffen und mit Näherrücken der zu erwartenden finalen Katastrophe um die liebgewonnen "Flugbegleiter" zu bangen. 

Das Musical "Zeppelin" lebt von einer emotionalen, musikalischen, optischen und erzählerischen Vielfalt, die die Produktion zu etwas ganz Großem und Einzigartigem erwachsen lässt. Es wird ab der ersten Minute transparent, wie viel Herzblut in Füssens neue Musicalsensation geflossen ist. Trotz einer Spieldauer von mehr als dreieinhalb Stunden inklusive Pause wird die Vorstellung zu keinem Zeitpunkt langweilig, ganz im Gegenteil, der Theaterbesucher wird von der hohen Qualität der Produktion auf allen Ebenen mitgerissen und taucht in eine Welt ein, die die Wünsche eines jeden Musicalliebhabers für einen Abend lang Realität werden lässt. Mit "Zeppelin" geht es für das Publikum hoch hinaus - der Zuschauer erlebt eine unvergessliche Vorstellung, die zum Träumen einlädt. Im Gegensatz zu den Passagieren des Luftschiffs erlebt der Besucher keinesfalls eine Bruchlandung, sondern vielmehr einen künstlerischen Höhenflug. Die Konzeption der Produktion ist komplex und macht es dem Zuschauer doch ganz leicht, in längst vergangene Jahrzehnte abzutauchen. Wer sich noch kein Ticket für einen Flug über den künstlerischen Wolken gelöst hat, sollte dies somit schnellstmöglich nachholen und sich von der Leidenschaft aller Beteiligten vor, auf und hinter der Bühne anstecken lassen.

    Fotos: (c) Brauer Photos_Goran-Nitschke

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