Theater kann die Welt verändern - "Der Club der toten Dichter", ein eindringliches Meisterwerk, das die Sprache des Herzens spricht

Manchmal kann die Begegnung mit einem Menschen ein ganzes Leben verändern. Vielleicht erkennt man den Wert dieses unerwarteten Zusammentreffens noch nicht im ersten Augenblick, aber es gibt diese Menschen, die dein Leben gehörig auf den Kopf stellen, dir die Augen für bislang verborgene Schätze der Welt öffnen und dir beim Wachsen helfen. 
Ein Moment, in dem sich Wege kreuzen - zunächst unscheinbar und doch so voller Kraft. Mit solchen Begegnungen, die unter dem schlichten Geschenkpapier eine unvergessliche Überraschung bereithalten, fangen doch die schönsten Geschichten an, so auch eben jene, die nun bereits das dritte Jahr in Folge das Publikum in der Bad Hersfelder Stiftsruine zu begeistern vermag. Die beliebten Festspiele in der hessischen Kurstadt bereiten jeden Sommer aufs Neue unvergleichliche Theatermomente in kultureller Vielfalt und künstlerischer Extravaganz. Doch einer Produktion, die in diesem Jahr wiederholt auf dem Spielplan zu finden ist,  gelingt es, diesen kulturellen Genuss noch weit zu übertreffen und die imaginativen Grenzen dessen zu sprengen, wozu Theater für gewöhnlich fähig ist. "Der Club der toten Dichter" begeistert bereits seit über 30 Jahren in Form von Peter Weirs weltbekanntem Film eine Vielzahl von Zuschauern vor den Mattscheiben. 2021 hat es sich das Team der Bad Hersfelder Festspiele erstmals zur Aufgabe gemacht, auf Grundlage der Filmvorlage "Dead Poets Society", nach dem Drehbuch von Tom Schulman, eine eigene Fassung der bewegenden Geschichte auf die Bühne zu bringen. Mit der diesjährigen Wiederaufnahme ist den Machern eine Theaterproduktion gelungen, die ihresgleichen sucht und den bekannten Stoff in einer wohl nie zuvor dagewesenen Eindrücklichkeit und Emotionalität bearbeitet. 

(c) Bad Hersfelder Festspiele/Johannes Schembs 

Erzählt wird eine Geschichte über Freundschaft, Liebe, Zusammenhalt und Mut, im Rahmen derer die Schicksale unterschiedlicher Charaktere miteinander verwoben werden, sodass sich ein Netz zwischen all den vielfältigen Persönlichkeiten entspinnt, welches die Leben aller für immer verändern soll. "Der Club der toten Dichter" führt den Zuschauer an die altehrwürdige "Welton Academy" - einem traditionsreichen Jungeninternat, in dem seit jeher Generationen von Schülern auf den Ernst des Lebens vorbereitet werden. Hier werden die Jugendlichen nach strengen Regeln zu Konformität sowie Gehorsam erzogen und in ein System von Autorität und Untergebenheit eingeführt. "Tradition, Exzellenz, Ehre und Disziplin" schweben als allumfassender Schulkodex über dem Internatsalltag, der nicht gebrochen werden darf. Umso erstaunlicher, dass es doch einem Mann gelingen soll, mit seinem Freigeist und seiner Herzenswärme alles in Frage zu stellen, was das konservativ geprägte Internat ausmacht...

John Keating kehrt als neuer Lehrer an eben jene Institution zurück, die ihm selbst aus seiner eigenen Schulzeit vertraut ist. Während das restliche Kollegium hinsichtlich der Erziehung und Bildung der Heranwachsenden auf klare Hierarchiestrukturen und tradierte Wissensvermittlung setzt, rückt Keating den Wert des Einzelnen in den Mittelpunkt. Das oberste Ziel seines Unterrichts: Die Schüler zu einem freien, selbstständigen Denken zu befähigen und ihnen die Augen für das Potenzial zu öffnen, das tief vergraben in jedem Einzelnen von ihnen schlummert und darauf wartet, hinter all der Konformität, die das Internat hervorbringt, entdeckt zu werden.
Diese andersartige Perspektive gepaart mit unkonventionellen Lehrmethoden sorgt im Internat schnell für Irritation - das Kollegium ist empört, die Schüler sind nach anfänglicher Verwunderung begeistert. Gebannt hängen die Jugendlichen an den Lippen des neuen Lehrers, der schnell zum Vorbild und zur Galionsfigur freien Denkens und Handelns wird. Entgegen allen Widerstands der Erwachsenen gelingt es John Keating, das Lernen in der "Welton Academy" vom Staub der Autorität zu befreien, die Räume des Internats mit neuem Leben zu erfüllen und jeden Schüler an seinem individuellen Standpunkt abzuholen. Ob Selbstvertrauen, Zuspruch, Kreativität oder innere Ruhe - der Lehrer lernt die Heranwachsenden Tag für Tag besser kennen und realisiert die persönlichen Bedürfnisse und Nöte jedes Einzelnen. Doch Kreativität, Freigeist und Selbstverwirklichung gelten in den Gemäuern des von strenger Hand geführten Jungeninternats keinesfalls als Tugenden und so zieht sich die Schlinge um den Hals des Mannes, der sich mit seiner Offenheit und seiner Empathie dem starren Regelkorsett entgegenstellt, immer enger zu...

(c) Bad Hersfelder Festspiele/Johannes Schembs 

Als "Captain der Mannschaft" gebührt Francis Fulton-Smith der größte Respekt für eine sensationelle schauspielerische Darbietung, im Rahmen derer er die Figur des freiheitlich denkenden Lehrers "John Keating" mit viel Feingefühl und Herzblut zum Leben erweckt. Brillant entwickelt er eine sehr nahbare und sympathische Version des Literaturliebhabers, der sowohl die Schüler auf der Bühne als auch das gebannte Publikum im Zuschauerraum dazu anregt, die Schönheit des Augenblicks zu erkennen und auf den eigenen Wert und die Individualität zu vertrauen. Mit einer kaum zu beschreibenden spielerischen Leidenschaft präsentiert Francis eine warme, mitfühlende Lehrerfigur, die mit ihrem empathischen Blick scheinbar tief in die Seele eines jeden Menschen blickt. Hin und wieder provokant und dabei zugleich voller Warmherzigkeit kitzelt der Lehrer alles aus den Heranwachsenden heraus. Für die Schüler wird John Keating zu einem Vorbild, das den Mut aufbringt, altbekannte Pfade zu verlassen, scheinbar Vertrautes in neuem Gewand auszukleiden, und das trotz des stillen Heldentums doch nicht davor gefeit ist, selbst Fehler zu machen und von Unsicherheit und Zweifeln heimgesucht zu werden. Herausragend gestaltet der Darsteller jene für die Figur des revolutionär angehauchten Literaturlehrers plakativen Ausbrüche der Euphorie und Leidenschaft, im Rahmen derer Keating seine inneren Überzeugungen nach außen treten lässt, und verliert trotz aller Größe der Figur doch nie den zurückhaltenden, beinahe introvertierten Kern des Charakters aus den Augen. Dies beweist der Schauspieler mit jeder Facette seiner grandiosen Darbietung, indem er Keating eine ganz eigene Körperlichkeit verleiht und mit den Momenten von innerer Stärke und Unsicherheit jongliert. Vor allem in den ruhigen, zurückgenommenen Momenten gibt der Künstler dem Charakter den nötigen Raum, sich zu entwickeln und ermöglicht so über drei Stunden hinweg einen spielerischen Spagat zwischen Größe und Expression sowie Intimität und Zurückgenommenheit, der die Figur in all ihrer farblichen und emotionalen Pracht erblühen lässt. 
Insbesondere jene Szenen, in denen der Zuschauer tiefe Einblicke in das Innere der Figur erhaschen kann, verleihen der Darstellung einen besonders authentischen Charakter und eine eindringliche Intensität. Die Theaterbesucher spüren jede kleinste emotionale Regung des Charakters und werden in solch ergreifender Weise an die ausdrucksstarke Verkörperung einer bewegenden Figur gebunden, wie es nur schauspielerische Exzellenz zu vollbringen vermag. Francis Fulton-Smith gelingt es, einen für das Publikum greifbaren, menschlich nahbaren und vielschichtigen Charakter auf der Bühne aufleben zu lassen und mit seiner großartigen, sehr bewegenden Darbietung Spuren in den Herzen der Schüler ebenso wie in denen der begeisterten Zuschauer zu hinterlassen. 

Weiterhin hallt die schauspielerische Leistung von Till Timmermann, der mit einer unglaublichen Raffinesse und viel Fingerspitzengefühl den Charakter des "Neil Perry" aufleben lässt, noch lange nach Ende der Vorstellung nach. Der Darsteller kreiert eine hoch authentische Version des Jungen, der sich zunehmend zwischen dem Gehorsam gegenüber seinem Vater und der Sehnsucht nach Selbstverwirklichung sowie kreativer Freiheit zerrissen fühlt. Angeregt von Keatings Credo des freien Denkens und Fühlens, wandelt Neil auf den Spuren seines Seelenlebens und lernt dabei erstmals, das Flüstern seiner Träume zu hören sowie seiner inneren Stimme, die mit jedem "Nein" des autoritären Vaters lauter schreit, Tribut zu zollen. Mit spielerischer Exzellenz macht der Darsteller diesen inneren Konflikt zwischen den eigenen Wünschen und Sehnsüchten sowie den institutionellen Erwartungen, die durch Vater und Lehrerkollegium tagtäglich an Neil herangetragen werden, transparent und reichert die Figur dabei mit einer Mischung aus scheinbar gegensätzlichen Charakterzügen an, die in ihrem kontrastiven Reichtum jedoch erst die wahre Menschlichkeit und Lebensnähe der Figurenzeichnung offenbart. Verletzlichkeit und Stärke, Tatendrang und ein Gefühl der Lähmung, Jugendlichkeit und die Not, schnell erwachsen zu werden, all diese Züge stehen sich hier beinahe antithetisch gegenüber und verweben sich doch zugleich zu einer realitätsgetreuen Zeichnung eines jungen Mannes, der zwischen all den Hürden und Begrenzungen nach seinem individuellen Weg sucht. Till gelingt es im Rahmen dieser charakterstarken Rolle, eine große Bandbreite an künstlerischen Farben zu zeigen und sein beeindruckendes Verständnis für die Komplexität dieser Figur nach außen zu tragen. Die kleinen menschlichen Momente von Freundschaft bleiben ebenso unvergessen wie der grandiose Auftritt im Rahmen eines "Spiel-im-Spiels", wobei Till innerhalb seiner Rolle ein Theaterengagement annimmt und wahrlich meisterhaft und voller Expression die Figur des "Puck" in Shakespeares "Sommernachtstraum" mimt. Im figuralen Gewand des ebenso kessen wie tollkühnen Fabelwesens wird die schauspielerische Variabilität, welche der Darsteller anzubieten hat, eindrucksvoll offenkundig. 

(c) Bad Hersfelder Festspiele/Johannes Schembs 

Nico Kleemann begeistert mit seiner authentischen Verkörperung des introvertierten "Todd Anderson", der im Laufe der Handlung eine bemerkenswerte Entwicklung durchlebt. Herausragend arbeitet der Darsteller eine Figur voller innerer Unsicherheiten und Ängste aus, die sich hinter ihren Mitschülern versteckt und sich selbst keinerlei Vertrauen schenken kann. Für den Zuschauer wird ab der ersten Minute transparent, wie sehr Todd unter seinen sozialen Ängsten leidet und wie stark der Jugendliche kämpfen muss. Die Spuren dieses inneren Kampfes zeichnen sich in jedem Augenblick auf der Bühne in Mimik und Gestik des Schauspielers ab. Mit einer hohen Sensibilität fühlt sich Nico in die in ihrer Scheu seelisch gefangene Figur ein, hört dem Charakter genau zu und stellt jede Nuance spielerisch stark heraus. Doch der Darsteller vermag es nicht nur, diese Unsicherheiten glaubwürdig auszuarbeiten, ebenso authentisch feilt er den Bogen des Wandels aus, der sich im Laufe der Geschichte zaghaft entspinnt und mit zunehmender Intensität über das gesamte Stück spannt. Der Zuschauer wird Zeuge von ersten Momenten, die für andere Menschen völlig banal erscheinen mögen, doch für den zurückgezogenen Jungen die Welt bedeuten - eine erste Freundschaft, ein erstes Mal die Stimme erheben, ein erster Schrei, ein erstes Mal das Spüren des eigenen Selbst. Ausgezeichnet durchlebt der Künstler innerhalb seiner Rolle eine schrittweise Wandlung vom unsicheren, introvertierten Jungen hin zu einem starken, in sich verwurzelten jungen Mann. Bedeutsam für diese Entwicklung gestalten sich in erster Linie kleine zwischenmenschliche Momente, die der Heranwachsende sowohl mit Lehrer Keating als auch mit seinem Zimmergenossen Neil teilt, welcher von Beginn an eine besondere Beziehung zu seinem Mitschüler knüpft und ihn in jenen Situationen an die Hand nimmt, in denen Todd in der Dunkelheit seiner eigenen Ängste verloren zu gehen droht. Das ausgezeichnete Zusammenspiel der Künstler auf der Bühne rückt diese bedeutungstragenden Interaktionen grandios in den Mittelpunkt und trägt mit viel Feingefühl dafür Sorge, dass die dargebotene Menschlichkeit, welche als Todds Quelle der Stärke und des Muts fungiert, stellenweise zu Tränen rührt.

Ebenso fantastisch besetzt wurde die Rolle des "Knox Overstreet", in der Fabian Hanis mit einer rundum stimmigen Darbietung auf ganzer Linie zu überzeugen weiß. 
Wird der Charakter doch zunächst noch als unscheinbarer "Mitläufer" im Rücken der Freunde in die Handlung eingeführt, wendet sich schon bald das Blatt und der Schüler tritt als ein zentraler Akteur in den Fokus des Geschehens. Dabei wird die Figur zu einem Sinnbild des jugendlichen Lebensgefühls erhoben, indem das Schicksal für Knox eine Begegnung mit seiner Traumfrau arrangiert, die in dem Heranwachsenden die Gefühle einer ersten großen Jugendliebe weckt. Blind vor Verlangen und Liebe lässt der junge Mann nichts unversucht, die attraktive und charmante "Chris Noel" für sich einzunehmen, und stolpert dabei von einem Fettnäpfchen ins nächste. Fabelhaft präsentiert Fabian eine liebenswerte Interpretation des den ersten romantischen Gefühlen erlegenen Schülers und erschafft gemeinsam mit Bühnenpartnerin Susanne Blodt herrlich herzerwärmende Momente. Verbissen und zugleich unglaublich anrührend lässt der Schauspieler den Charakter unerschütterlich um seine große Liebe kämpfen und zeichnet dabei ein glaubwürdiges Bild eines Jugendlichen, der in der Euphorie erster romantischer Gefühle aufzugehen scheint. Fabian gelingt es ausgezeichnet, den leicht humoristischen Charakter in den verzweifelten Versuchen, das Herz seiner Traumfrau zu gewinnen, offenzulegen und der Figur dabei doch nie ihre Ernsthaftigkeit abzusprechen. 

(c) Bad Hersfelder Festspiele/Johannes Schembs 

Der gestrenge Direktor der "Welton Academy", "Robert Nolan", wird brilliant von Hannes Hellmann verkörpert, der der Figur mittels eindrucksvoller Schauspielkunst einen ganz eigenen Habitus verleiht. Das Auftreten des autoritären, konservativ geprägten Schulleiters lässt vermutlich nicht nur den Schülern der "Welton Academy" das Blut in den Adern gefrieren, sondern sorgt auch im Zuschauerraum für die ein oder andere Gänsehaut. Mit strengem Blick wacht Robert Nolan über die Einhaltung der schulischen Gesetze und ruft seine Schützlinge stets zu Disziplin und Gehorsam auf. Nuanciert stellt der Schauspieler mit jedem Blick und jeder Bewegung durchdacht den selbstbewussten sowie durchsetzungsstarken Charakter heraus und verleiht der Figur eine einnehmende Präsenz, die von Hannes Hellmanns brillanter Bühnenausstrahlung getragen wird. Das Publikum kann den Blick einfach nicht von der präzise definierten und erschütternd realistischen Charakterzeichnung abwenden und muss sich schließlich der figuralen sowie schauspielerischen Autorität geschlagen geben. Abgerundet wird die phänomenale Darstellung des unnahbaren, kaltherzigen Charakters von einer eindringlichen stimmlichen Präsentation, welche von präzise platzierten Intonationen veredelt wird.

Ebenso autoritär und in ihrer Standhaftigkeit und Unnachgiebigkeit erdrückend gestaltet sich die Interpretation der Figur "Mr. Perrys", die Schauspieler Thorsten Nindel ausgezeichnet mit Leben zu füllen vermag. Der Künstler konfrontiert das Theaterpublikum mit einer refrektären, dominanten Vaterfigur, die auf Zucht und Ordnung pochend völlig den Blick für den eigentlichen sensiblen Kern seines gefühlvollen Kindes verliert. Von seiner eigenen Erziehung zu Gehorsam und Pflichtbewusstsein geprägt, stellt sich Mr. Perry gegen die Träume und Wünsche seines Sohnes, unterbindet jeden Versuch eines kreativen Ausflugs konsequent und lässt in seinem Drill zu Ehrgeiz und Bestleistungen keinerlei Gnade walten. Das Zusammenspiel von Vater und Sohn gestaltet sich erschreckend ernsthaft und lässt ein völlig zerrüttetes familiäres Gefüge in schauspielerischer Pracht aufleben.
In herrischem, schneidenden Tonfall stellt sich Thorsten Nindel ab der ersten Szene immer wieder seinem Bühnensohn und Spielpartner Till Timmermann entgegen und komplettiert mittels kerzengerader Haltung sowie selbstsicherem Auftreten das Bild eines innerlich kalten und harten Charakters, der seine eigenen Erfahrungen aus Vergangenheit und Gegenwart immer wieder mit aggressiven Schüben kompensiert.
Da es Thorsten grandios gelingt, diese charakterliche Härte über die gesamte Vorstellung hinweg aufrechtzuerhalten, wirkt der kurze schlussendliche emotionale Ausbruch der Figur, im Rahmen derer der Zuschauer für einen winzigen Moment Einblick in das gut gehütete Innenleben des Charakters erhält, im Kontrast umso intensiver.

(c) Bad Hersfelder Festspiele/Johannes Schembs 

Peter Englert reiht sich mit seiner hervorragenden Interpretation des teils schon komödiantisch angehauchten Mathelehrers "George McAllister" in die Riege schauspielerischer Meisterleistungen ein. Aufmerksam trägt der Lehrer Sorge für die Einhaltung der schulischen Ordnung, patrouilliert auf der Suche nach jugendlichen Vergehen durch die Gänge des Internats und wird mit seinen ständigen Ermahnungen und Zeitansagen nicht nur zu einem Sinnbild für das auf Gehorsam ausgerichtete Konzept der Schule, sondern führt zugleich beinahe als immer wiederkehrende, symbolisch aufgeladene Figur durch die Geschichte. Doch dem Darsteller gelingt es nicht nur mittels gut ausgebildetem schauspielerischen Handwerk, diese Facette des Charakters zu bedienen, auch die immer wiederkehrenden, den Augen des Kollegiums sowie der Schüler verborgen bleibenden Ausbrüche der Figur stellt Peter Englert großartig heraus. Mit künstlerischer Hingabe reißt der Schauspieler das Publikum mit und brilliert im Rahmen jener Szenen, die die harte Schale des Mathematikers aufbrechen und einen nahbaren, emotionalen Kern offenlegen, welchen der im Licht der Öffentlichkeit stets an die gesellschaftlichen Erwartungen angepasste Mann manchmal selbst erst wieder ergründen muss. So erstrahlt der auf den ersten Blick sehr linear agierende und eindimensional wirkende Charakter zunehmend in einer Vielschichtigkeit, die Peter gekonnt auszuarbeiten weiß. Der Darsteller balanciert den komödiantischen Ansatz der Figurenzeichnung wunderbar aus, setzt die unterschiedlichen Farben des Charakters entsprechend in Szene und verschreibt sich für drei Stunden voll und ganz der Rolle in ihrer Mehrschichtigkeit. 

Komplettiert wird der "Club der toten Dichter", auf den die Jungen bei einem Blick in die Vergangenheit des Lehrers Keating stoßen und den Neil schließlich als Initiator wiedereröffnet, von den Charakteren "Richard Cameron", "Charlie Dalton" und "Steven Meeks", die allesamt großartig von Stefan Reis, Luke Bischof und Nils Eric Müller interpretiert werden. Luke sorgt mit seiner selbstbewussten, lässig wirkenden Darstellung des sich zunehmend gegen das starre System der Schule auflehnenden Charlie für Begeisterungsstürme im Zuschauerraum. Tiefgehend lässt sich der Künstler auf die ja nahezu rebellierende Seite des Jugendlichen ein und bietet eine charmante, selbstbewusste Interpretation der Figur dar. Hoch authentisch verkörpert der Darsteller den freiheitsliebenden Schüler, der sich selbst mit seinen teils äußerst impulsiv gesteuerten Handlungen oftmals in Schwierigkeiten bringt und in seiner Rebellion dennoch stets darauf bedacht ist, das kostbare Band der Freundschaft zu schützen. 
Nils Eric Müller überzeugt mit seiner gutmütigen, ja manchmal schon fast kindlich-naiv wirkenden Darbietung in der Rolle des Technikgenies Steven, der sowohl seine Mitschüler als auch die später auftretenden Mädchen stets von sich zu beeindrucken versucht.
Stefan Reis haucht der Figur des Musterschülers "Richard Cameron", dem Letzten im Bunde, mit künstlerischem Scharfsinn Leben ein. Tiefgreifend fühlt er sich in den Charakter ein, der sich zwar widerwillig dem Club der Mitschüler anschließt, dessen Enthusiasmus für die Sache jedoch nie groß genug ist, um das tief verankerte Pflichtgefühl sowie den geschulten Blick für die eigenen Vorteile innerhalb des Hierarchiegfüges im Internat vollständig zu bekämpfen. Der Darsteller präsentiert eine smarte, abgeklärte Version des jungen Mannes, der zwischen der Anerkennung der schulischen Traditionen und dem Versuch, den Kontakt zu den Mitschülern zu wahren, steht und sich in seinem Streben nach Anerkennung und Bestleistungen schließlich doch oft selbst der Nächste ist.

(c) Bad Hersfelder Festspiele/Johannes Schembs 

Jeder der Künstler lässt sich tiefgehend auf die jeweilige Figur ein, spürt dem Charakter bis in die hintersten Winkel des verborgenen Innenlebens nach und legt im Rahmen einer emotionalen Interpretation nicht nur die Seele des Charakters, sondern auch ein Stückchen seines eigenen künstlerischen Herzens offen. Jede Figur darf hier ihre individuellen Züge in das Zusammenspiel aller Rollen einbringen, welches die für diese Handlung so prägnanten Verstrickungen und Überkreuzungen von Lebenswegen begründet. Eine schauspielerische Ausgestaltung, die der Komplexität der Geschichte und ihrer unterschiedlichen Akteure gerecht wird, ermöglicht dem Publikum ein Kennenlernen vielschichtiger Charaktere, die in ihrer Nahbarkeit großes Potenzial für eine identifikatorische Rezeption bieten. 

John Keating lässt mit einem Satz aufhorchen: "Worte und Gedanken können die Welt verändern." Die Bad Hersfelder Produktion liefert den besten Beweis für die Verifizierung dieser Theorie. Auf einer großen Bühne entstehen plötzlich ganz kleine, intime Momente, in denen eine unvergleichliche emotionale Kraft liegt. Die Inszenierung steckt voller bewegender Dialoge, die das Publikum dicht an die Figuren heranführt, es berührt und dabei ganz häufig zum Nachdenken anregt. Unter Mr. Keatings Anleitung sollen die Schüler der "Welton Academy" lernen, gegen den Strom zu schwimmen, den in ihnen schlummernden Gefühlen Raum zu geben und die Welt aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Nicht nur für die Schüler auf der Bühne entwickelt sich hierbei die Möglichkeit, neue Wege einzuschlagen - die Ermutigung zum Perspektivwechsel durchbricht die berühmte "vierte Wand" des Theaters und fordert den Zuschauer ganz subtil und doch irgendwie sehr wirkungsvoll dazu auf, manches für einen Moment aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. 
"Der Club der toten Dichter" präsentiert sich als wortgewaltiges Werk, das den Zuschauer manchmal poetisch-verträumt, manchmal ganz unverklärt und direkt mitten ins Herz einer fiktiven und zugleich so realitätsbewegenden Welt entführt, und - trotz der hier entfesselten Macht der Worte - auch Momente erschafft, in denen die Schönheit sowie die Ehrlichkeit vor allem in dem Ungesagten zwischen den Zeilen verborgen liegt.

 (c) Bad Hersfelder Festspiele/Johannes Schembs 

"Wir suchen, wir finden, wir geben niemals auf!" Dieser Satz wird nicht nur zum Leitspruch des Clubs rund um Neil, Todd und Co, sondern kann auch zugleich als Motto hinsichtlich der Bühnengestaltung der Bad Hersfelder Festspiele gelesen werden. Jedes Jahr wird aufs Neue an der Realisierung und Visualisierung gestaltungstechnischer Ideen gefeilt, die es allen Beteiligten erlauben, die Bühne bestmöglich zu bespielen und die Zuschauer mit optischer Unterstützung an ferne Orte und in längst vergessene Zeiten zu entführen. Die Stiftsruine bietet als Spielort besondere visuelle Möglichkeiten und schafft eine einzigartige Atmosphäre, die auch dieser Produktion zugutekommt. Das alte Gemäuer der Ruine wartet mit einem besonderen Flair auf und schafft Raum für großes Theater in unvergleichlicher Kulisse. Die gesamte Bühne wird bei diesem Stück bespielt, so fährt beispielsweise das Klassenzimmer nach Bedarf stets aus einer den Mittelpunkt der Bühne abbildenden großen Holztreppe heraus. Die Idee, den Bühnenboden aufzuklappen und zu einer Höhle, dem geheimnisvollen Treffpunkt des "Clubs der toten Dichter", umzufunktionieren, erscheint nicht weniger ausgeklügelt. Optisch wird der Theaterbesucher auf der Stelle an den amerikanischen Schauplatz der Handlung katapultiert und kann selbst Schulluft schnuppern. 
Eine adäquate musikalische Untermalung rundet das alle Sinne ansprechende Erlebnis im Hintergrund ab und ermöglicht es zugleich, die jeweilige atmosphärische Nuance auch auf akustischer Ebene zu transportieren. 

Die Produktion spielt mit Kontrasten und verbindet diese im Rahmen der Gesamtaufführung beinahe poetisch zu bildlichen und klanglichen Oxymora. Kontrastiv wird die hierarchisch geprägte Welt der "Welton Academy" der Sehnsucht nach einer für Selbstverwirklichung Raum schaffenden Freiheit abseits der schulischen Mauern, die ähnlich einer Festung das Denken, Fühlen und Handeln zu begrenzen scheinen, entgegengesetzt. Diese die gesamte Handlung dominierende Zerrissenheit wird von einer Kontraste anvisierenden Dramaturgie widergespiegelt, im Rahmen derer scheinbare Widersprüche gegenübergestellt und in ihrer Gegensätzlichkeit dennoch zu einer künstlerischen Einheit verwoben werden. 
Laut und leise, Gehorsam und Freigeist, Enge und Ausbruch - all diese antithetisch anmutenden Attributionspaare werden zum Sinnbild für einen Widerstreit zwischen zwei Welten, die im Laufe der Geschichte aufeinanderprallen. 

(c) Bad Hersfelder Festspiele/S. Sennewald

Die diesjährige Produktion bietet ein Theatererlebnis der Extraklasse, das in einer in dieser Form wohl lediglich sehr selten zu findenden Mischung aus Professionalität und Können sowie Leidenschaft, Hingabe und Emotionalität wurzelt. An der Seite von Lehrer Keating lernen Schüler wie Theaterbesucher so viel über sich selbst und erkennen, dass Schönheit meist nicht in dem analysierenden, vergleichenden Blick zu finden ist. Im Rahmen einer nuancierten, bis ins kleinste Detail durchdachten Inszenierung kreieren die Künstler hoch atmosphärische und unvergessliche Momente und lassen die Bad Hersfelder Stiftsruine im Licht der Schauspielmagie erstrahlen. Die Bühnenfassung lässt die Grenzen zwischen Theaterwelt und Realität gekonnt verschwimmen und verleiht dem Stoff eine besondere Dringlichkeit sowie eine entsprechende Intensität. Mit Fortschreiten der Handlung bleibt bei solch einem immersiven Erleben wohl kaum ein Auge im Zuschauerraum trocken. 

Schauspielkunst ist bekanntermaßen vergänglich. Jedes Wort, jeder Blick, jedes Lachen existiert in dieser einzigartigen Form auf der Bühne lediglich für einen Hauch von Moment und ist einen Flügelschlag später für immer verstrichen. Schauspieler halten - anders als andere Künstler, Handwerker und Schöpfer - kein sichtbares Produkt in den Händen. Doch die Inszenierung Joern Hinkels beweist auf eindrucksvolle sowie ergreifende Art und Weise, dass die wirklich eindrücklichen, gefühlvollen und ehrlichen Schauspielmomente niemals ganz verschwinden. Die Bad Hersfelder Produktion reiht sich in die Riege der exklusiven Inszenierungen ein, im Rahmen derer auch der kleinste Augenblick auf der Bühne in einer unendlichen emotionalen Größe erblüht. Alle Mitwirkenden vor, auf und hinter der Bühne haben in kreativer Kleinstarbeit ein Gesamtwerk geschaffen, das die Zuschauer prägt und in ihren Köpfen noch lange nach Ende der Vorstellung nachhallt.
"Der Club der toten Dichter" bietet so viel mehr als fiktionales Unterhaltungsprogramm - der Besucher wird Teil kleiner und großer Geschichten der Menschlichkeit. Mit Nachdruck schaffen die Künstler auf den Brettern, die die Welt bedeuten, Momente und Gefühle, die sich - ähnlich wie Erinnerungsbilder in einem Album - in den Herzen der Zuschauer manifestieren.
In ein paar Jahren werden diese Bilder vielleicht etwas verblasst, gewellt oder eingerissen sein, aber ihre Bedeutung und ihre Schönheit werden niemals verloren gehen - dafür hat das gesamte Team mit seiner meisterlichen Leistung Sorge getragen!

 (c) Bad Hersfelder Festspiele/Johannes Schembs 





Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Große Emotionen im Sherwood Forest - Mit Robin Hood kommt eine neue Zeit des Musiktheaters

Wenn die Sehnsucht tanzen geht - Schaurig-schöne Ästhetik und düstere Fulminanz in Hamburgs Gruft