Klangvoller Märchenzauber für Jung und Alt - Humperdincks "Hänsel und Gretel", ein zauberhafter Klassiker in der Oper Wuppertal

Ein leises Knacken im Geäst, die sanfte Stimme des Windes, die mit dem bunten Laub der Bäume spielt, ein liebliches Zwitschern aus einem gut verborgenen Vogelnest hoch in den Wipfeln - all diese flüsternden Geräusche inmitten der sonst so tönenden Stille lassen den Wald in einem zaghaften, ja rundum friedvollen Licht erscheinen. Der leise Ruf des Käuzchens verwebt sich mit dem eifrigen Scharren eines Dachses zur Symphonie der Natur vor dem Hintergrund einer verschlafenen Kulisse. Lediglich dem ganz aufmerksamen Zuhörer bleibt ein kaum zu vernehmendes, beinahe flüchtiges Störgeräusch inmitten des sonst doch so herrlich komponierten Liedes der Natur nicht verborgen, das aus der Ferne noch so unscheinbar klingt und mit jedem weiteren Schritt in den Wald doch das anfänglich nur als unbestimmtes Gefühl aufflammende Unbehagen wachsen lässt. Es ist ein schrilles, gespenstisch anmutendes Lachen, auf dessen gellenden Klang ein einziger Satz folgt: "Knusper, knusper Knäuschen, wer knuspert mir am Häuschen?"

Märchen begeistern die Menschen auf der ganzen Welt seit jeher in ihrer fantastischen, atmosphärischen und oftmals doch auch etwas düsteren Gestalt. In unzähligen Kinderbuchregalen sind wohl reich verzierte Ausgaben der Geschichten von Hans Christian Andersen, Jacob und Wilhelm Grimm, Wilhelm Hauff und Co beheimatet. Kein Wunder also, dass sich gerade dieser magische Stoff, der seit Jahrhunderten Generationen in ihrer Faszination verbindet, bestens für die Umsetzung im Theater eignet - einem zauberhaften Ort, an dem Träume für einige Stunden Wirklichkeit werden können, und der sich mit dem Märchen die besonderen Charakteristika der Magie teilt. Einen Klassiker der Bühnenadaption bildet dabei ohne Frage Engelbert Humperdincks Oper "Hänsel und Gretel" ab, die in den 1890er Jahren das Licht der Welt erblickte und seitdem aus der deutschsprachigen Theaterlandschaft nicht mehr wegzudenken ist. 
In diesem Jahr lädt die Oper Wuppertal zu einer musikalischen Reise in die zauberhafte Märchenwelt der Brüder Grimm ein und präsentiert mit der Neueinstudierung der 2006 bereits aufgeführten Inszenierung des ehemaligen Intendanten Johannes Weigand eine wundervolle Fassung des Klassikers mit langjähriger Rezeptionsgeschichte.


Im Hause des Besenbinders "Peter" lebt seit einigen Jahren der ungebetene Gast der Armut und Tristesse, der mit seinem Taktstock das Leben täglich zu dirigieren scheint. Von den Plagen des beschwerlichen Alltags gezeichnet erfreut sich das Heim lediglich dank der aufgeweckten Art des Geschwisterpaares "Hänsel" und "Gretel" kleiner Momente des Sonnenscheins und der Lebendigkeit, die inmitten des grauen Alltagstrotts aufatmen lassen. Doch gerade für die Mutter der quirligen Geschwister erweist sich diese kindliche Freude nicht immer als Segen - gefangen in den Mühen und Lasten der Armut drohen sie ihre Gefühle angesichts der so konträr auflebenden Energie der Kinder manchmal zu überwältigen. Nachdem es einmal wieder zum Streit kommt, schickt die sichtlich überforderte Frau Hänsel und Gretel schließlich in den Wald, um dort Nahrung für die bevorstehende Mahlzeit zu sammeln - eine Entscheidung mit weitreichenden Konsequenzen, denn zwischen den Stämmen und dichten Baumkronen leben magische Wesen, die die Besucher des Waldes schnell in ihre Welt ziehen. Und inmitten all der fantastischen Geschöpfe lauert die dunkelste Vertreterin ihrer Art, die alte Knusperhexe "Rosine Leckermaul", die in ihrem Häuschen aus zuckrigem Naschwerk wie eine Spinne darauf wartet, dass die kindliche Beute ihr ins Netz der süßen Verführungen gehen möge. So nimmt das Schicksal seinen Lauf und es beginnt ein gefährliches Abenteuer für die beiden Kinder, die all ihre Kraft aufwenden und sich der Stärke ihres eigenen Verstandes ebenso wie der ihres unzertrennlichen Geschwisterbandes bedienen müssen, um der schauerlichen Märchengestalt das Handwerk zu legen.
 

Die Wuppertaler Inszenierung bedient sich eines weltbekannten Stoffes rund um Liebe, Mitgefühl und die Kraft des Zusammenhalts und lädt den Zuschauer zu einer gefühlvollen Reise in magische Sphären, in denen Realität und Fiktion im Sinne einer kunstvollen Märchenästhetik zu verschwimmen beginnen und das Tor zu einer fantastischen Welt aufstoßen, deren Avancen sich weder Groß noch Klein verschließen kann. Die Produktion verbindet dabei den nostalgischen, ungebrochenen Charme der Grimmschen Märchenwelt mit klug eingewobenen inszenatorischen Kniffs, die mit einem Augenzwinkern zum Schmunzeln einladen und in einer geschickten Verbindung aus Tradition und Aktualität die Zeitlosigkeit des populären Werkes betonen. Dabei zeichnet sich die Aufführung der Wuppertaler Oper nicht nur durch brillante Ideen in puncto theatraler Umsetzung aus, sondern begeistert ebenso dank einer stimmgewaltigen Besetzung, der es im Zuge eines feinsinnigen Rollenstudiums gelungen ist, den einzelnen Charakteren kraftvolle Konturen zu verleihen. 

Die Rolle des jungen "Hänsel" verkörpert Edith Grossman mit spielerischer Raffinesse und einer jugendlichen Leichtigkeit. Energetisch wie präzise mimt sie den manchmal etwas ungestümen Heranwachsenden, der sich in seiner Lebendigkeit doch zugleich rührend um seine Schwester sorgt. Voller Feingefühl spannt die Künstlerin einen Bogen zwischen wildem Tatendrang und warmer Sanftmut und spielt dabei vor allem jene Szenen in dieser charakterlichen Dualität aus, in denen Hänsel mutig voranschreitet, um in stereotyp-männlicher Manier das Zepter zu übernehmen, und dann - übermannt von seinen Ängsten - doch schnell in den Schatten seiner Schwester zurücktreten muss. Hier beweist Edith manchmal ganz dezent, manchmal aber auch gar gewollt plakativ ihr gutes Gespür für die komödiantischen Facetten der Rollenzeichnung, die sich immer wieder in der Interaktion mit Spielpartnerin Margaux de Valensart grandios zu entfalten wissen, sodass sich eine packende Geschwisterdynamik auf den Brettern, die die Welt bedeuten, entfaltet. Im Rahmen einer kraftvollen gesanglichen Darbietung eröffnet sich für Edith Grossman zudem der Raum, ihre ausgezeichnete Technik unter Beweis zu stellen. In stimmlicher Sicherheit und Perfektion intoniert die Mezzosopranistin Humperdincks eingängige Werke und lässt dabei auch die anspruchsvollsten Stellen in scheinbarer Leichtigkeit erstrahlen.

An ihrer Seite steht Margaux de Valensart, die die Rolle der "Gretel" mit einer ausgezeichneten Balance von charakterlichem Feingeist und jugendlicher Naivität zu füllen vermag. Spielerisch gekonnt umzeichnet die versierte Künstlerin eine lebensnahe Version des jungen Wirbelwinds und offenbart dabei die unterschiedlichen emotionalen Nuancen des Charakters, die von Übermut und Leichtigkeit bis hin zu Angst und Verzweiflung reichen und in eben jenem Konglomerat eine rundum authentische und vielschichtige Rolleninterpretation zu Tage fördern. Mit viel Fingerspitzengefühl kreiert die Darstellerin einen sehr zarten, warmherzigen Charakter, der in der Liebe und Zuneigung zum Bruder aufgeht und sich dabei doch zugleich als starke Persönlichkeit mit hellem Köpfchen hervortut. Jene Charakterzüge spiegeln sich auch in der gesanglichen Darbietung Margauxs, die sich gleichermaßen aus stimmlicher Filigranität und beeindruckender Klangfülle speist. Glockenhell erstrahlt der feine Sopran im Zuge wundervoller Kompositionen, die erst durch das imposante Zusammenspiel aus orchestraler Brillanz und stimmlicher Stärke ihre volle Pracht gewinnen. 


In der Rolle des Elternpaares "Gertrud" und "Peter"  überzeugen Elena Fink und Oliver Weidinger, denen es im Kontext eines herrlich aufeinanderabgestimmten Zusammenspiels gelingt, gleichermaßen die Tragik rund um das verarmte Ehepaar wie die komödiantische Akzentuierung, die in eben jener Figurenzeichnung verborgen liegt, transparent werden zu lassen. Während Elena Fink spielfreudig eine sehr ausdrucksstarke Version der von den harten Lebensumständen gezeichneten, erschöpften Mutterfigur koloriert, die in dem Publikum zugleich Ablehnung wie auch Verständnis und Mitgefühl für die schwierigen Hintergründe der Frau hervorzurufen vermag,
schenkt Oliver Weidinger seiner Darbietung eine besondere Stärke in Form seiner unvergleichlichen Bühnenpräsenz. Stimmgewaltig treten die beiden Sänger in einem harmonischen Duett auf, sodass sich die exzellent ausgebildeten Stimmen zur wahren Freude des musikaffinen Zuhörers in einem Wohklang ergießen. Die Sopranistin und der Bassbariton bedienen sich mit scheinbarer Mühelosigkeit der gesamten farblichen Palette gesanglicher Akzentuierungen und kombinieren dabei ihr stimmliches Handwerk mit einer starken Artikulation. 

Der mehr oder minder heimliche Star des Abends ist sicherlich Merlin Wagner in der Rolle der schrulligen Knusperhexe, die begierig darauf lauert, mit ihrer zuckersüßen Fassade saftige Beute für einen leckeren Schmaus ködern zu können. In der sensationellen Darbietung des Sängers vereinen sich künstlerische Genialität und merkliche Spielfreude zu einem fesselnden Gesamtkunstwerk theatraler Pracht. Brillant überzeichnet lässt Merlin Wagner einen düsteren Märchencharakter aufleben und bedient sich dabei eines bemerkenswerten Verständnisses für komödiantische Pointen und mitreißende Humoristik, die der Geschichte jedoch keinesfalls ihre Ernsthaftigkeit raubt, sondern den dramatischen Kern lediglich mit einer gut platzierten Nuance der Leichtigkeit umhüllt. Eben jene Freude, die sich dabei einstellt, der grandiosen Darbietung des Künstlers auf der Bühne zu folgen, stellt sich ohne Frage auch auf akustischer Ebene ein, sobald die ersten Töne des hervorragend ausgebildeten Tenors durch den Opernsaal klingen. Filigran schraubt sich die Stimme immer wieder in beeindruckende Höhen und verliert dabei doch nie an Kraft und Körperlichkeit. Gesangliches Können und spielerische Qualität schließen sich zu einem phänomenalen Auftritt in der Rolle der verschrobenen Antagonistin zusammen, der vom begeisterten Publikum schließlich mit frenetischem Applaus bejubelt wird.


Die gesamte Besetzung vermag am Premierenabend mit einer rundum herausragenden Leistung zu erfreuen, die als Aushängeschild für die hohe Qualität des Hauses wirbt. So bleiben beispielsweise auch die finessenreichen Auftritte Elia Cohen-Weisserts in Erinnerung, der in ihren Rollen als "Sandmännchen" und "Taumännchen" leider nur wenige Spielminuten zukommen, welche die Künstlerin jedoch im Sinne einer ausdrucksstarken Darbietung bestens zu füllen weiß.
Komplettiert wird das Ensemble durch einen eindrucksvollen Kinderchor, der sich aus den Opernclubs "Kids" und "Jugend" sowie dem Jugendchor der Musikschule Remscheid zusammensetzt und das Ende der Oper mit einer Klangfülle der besonderen Art verziert. Die finalen Stücke der Oper werden hier von einer gesanglichen Klasse junger Stimmen getragen, die eine berührende Klangkulisse im Theatersaal zaubern, die den Zuschauer in ganz beseelter Stimmung aus der Vorstellung entlässt.


Die musikalische Linie der Oper bedient sich wiederkehrender Motive, dank derer die Musik Humperdincks leicht ins Ohr geht und sich - ohne an Finesse und Tiefe einzubüßen - einer angenehmen Einprägsamkeit erfreut. Klassisch-romantische Klänge verbinden sich mit den für diese Oper typischen Elementen der Volksmusik und kolorieren das musikalische Gewand mal in verspielter, mal in sehnsuchtsvoll-verträumter Farbgestaltung.
Das große Wuppertaler Sinfonieorchester spielt unter der Leitung von Johannes Witt exzellent auf und webt so einen fulminanten Klangteppich aus den feinen Stoffen von musikalischer Imposanz und eindrucksvollem Feingefühl für den geforderten klanglichen Charakter. Wundervoll verschmelzen die einzelnen Stimmen im Sinne einer Gänsehaut zaubernden Einheit und entlocken der Partitur Humperdincks - insbesondere dank herausragend ausgespielter, wirkungsstarker Crescendi - ihre voller Strahlkraft. Bereits die meisterhaft vertonte Ouvertüre entführt mit ihrer fast zehnminütigen Eleganz in die zauberhafte Welt des Märchens und öffnet die Herzen der Zuschauer für die folgenden zwei Stunden voller musikalischer Schönheit. Hin und wieder geht die klangliche Wucht und Opulenz des Orchesters zu Lasten der Textverständlichkeit, da die Stimmen der Sänger manchmal ein wenig von dem satten orchestralen Sound geschluckt werden, doch diesem minimalen Manko lässt sich dank der Obertitel problemlos entgegenwirken, die ein umfassendes Eintauchen in das Libretto ermöglichen.

Ebenso kraftvoll wie die Partitur Humperdincks lädt auch das verspielte Bühnenbild von Markus Pysall zum Träumen ein und greift den Märchentopos in visuellem Einfallsreichtum auf, der das innere Kind sanft bei der Hand nimmt. In Kombination mit dem stimmigen Lichtkonzept der Produktion transportiert die Bühnengestaltung immer wieder stimmig die Atmosphäre der jeweiligen Szene und ermöglicht eine stimmungsvolle Reise in die Tiefen des Märchenwaldes, in dessen Dunkelheit magische Geschöpfe beheimatet sind. Die Variabilität in puncto Kulisse kleidet den Wuppertaler Theatersaal mal in das Gewand einer sehnsuchtsvollen Abendstimmung und trägt damit auch optisch der romantischen Motivik Rechnung, die sich aus der Entstehungszeit des Werkes entspinnt, nur um wenige Augenblicke später ein lebhaftes Bild des im wahrsten Sinne des Wortes zuckersüßen Hexenhauses vor dem Hintergrund der saftig-grünen Waldlichtung zu zeichnen. 

Der Inszenierung Weigands gelingt es meisterlich, eine zauberhafte Atmosphäre einzufangen, die den Theatersaal geradewegs in ein Märchenland voller Wunder und Magie verwandelt, in dem sich die schaurig-düstere und die komödiantische unterhaltsame Dimension die Hand zum Tanze reichen und sich im Sinne einer ausgeklügelten Choreografie theatralen Facettenreichtums schwungvoll drehen. Die Produktion changiert durchweg zwischen narrativer Dramatik und Tiefe sowie kleinen Spitzen des Humors, die der Produktion eine besondere Lebendigkeit verleihen und das Stück zu einem unterhaltsamen Kulturerlebnis für Jung und Alt expandieren. Durchdacht greift die Inszenierung das klug strukturierte Gerüst der Oper auf, um das populäre Werk aus der Spätromantik mit einer persönlichen Handschrift zu unterzeichnen und im Zuge dessen die in der Konstruktion der Oper eingewobenen Höhepunkte besonders prachtvoll auszukleiden. So spielt die Wuppertaler Produktion beispielsweise hervorragend mit der "Abendszene", welche stimmungsvoll die Pause einläutet und als retardierendes Moment narrativ geschickt den langersehnten ersten Auftritt der Knusperhexe in die zweite Hälfte der Aufführung verlagert. Die spielerisch ausgestaltete "Pantomime der Engel" entpuppt sich in großartiger Umsetzung als einer der Höhepunkte des Abends und hüllt den gesamten Saal in ein atmosphärisches Bild der Schläfrigkeit.

Egal, ob Jung oder Alt, wer noch auf der Suche nach einem stimmungsvollen, mitreißenden und künstlerisch herausragend inszenierten Theatererlebnis ist, das gerade in der nahenden Vorweihnachtszeit generationenübergreifende Unterhaltung auf hohem Niveau verspricht, der wird mit der Wuppertaler Inszenierung der Märchenoper ohne Frage fündig und darf sich auf einen gefühlvollen Abend freuen. Den kreativen Köpfen ist es gelungen, den märchenhaften Zauber des Stücks visuell wie akustisch einzufangen und der Inszenierung eine besondere Dynamik einzuschreiben, die sich nicht nur aus der szenischen Umsetzung auf der Bühne ergibt, sondern insbesondere auch auf den feinen Ideen hinsichtlich des Durchbrechens der vierten Wand und des damit verbundenen Bespielens vom Zuschauerraum fußt. Kleine moderne Twists werden hier in ein klassisches Gewand gewoben, das Rustikalität und Finesse wunderbar miteinander verknüpft und dem Werk in der Rahmung einer ideenreichen Inszenierung den Raum lässt, seinen vollen Charme eines verträumten Märchenklassikers zu entfalten.

                Fotos: (c) Oper Wuppertal 











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