Schaurige Imposanz und pyschologisches Feingefühl in der Fleet Street - "Sweeney Todd", ein kunstvolles Opus der Atmosphärik

Die Nacht fährt ihre Krallen aus und Dunkelheit senkt sich über die Gassen Londons, in den Ecken lauern finstere Gestalten und aus den Schatten schälen sich verarmte Kreaturen, deren Schreie sich zu einem qualvollen Lied der Hoffnungslosigkeit und des Wahnsinns vereinen. Hier und da flanieren vereinzelt gut betuchte Paare durch die rußgeschwängerte Nachtluft - stattlich und erhaben, doch innerlich blind für all das Leid, das sie hier inmitten der Kakofonie der Großstadt umgibt. Wohin man auch sieht, Wohlstand und Armut, Übermaß und Tristesse reichen sich die Hand zu einem kraftvollen Tanz, bei dem die Rollen in puncto Führung ganz eindeutig verteilt zu sein scheinen. Doch bei genauerer Betrachtung stört ein Ausschnitt dieses Bild der befremdlich etablierten Ordnung zweier Tanzpartner, die sich in der Abhängigkeit voneinander umrunden, denn ein Kamin in der Londoner Fleet Street durchbricht eben jenen Akt der bizarren Vereinigung mit einer düsteren Rauchsäule, die sich Nacht für Nacht in das Dunkel des Großstadthimmels mischt und dabei schaurige Geschichten zu flüstern scheint - Geschichten von Rachsucht und Vergeltung, von Verzweiflung und Seelenschmerz und von der unbändigen Kraft eines Gefühls, das einem alles geben und alles nehmen kann: der Liebe.
Das Theater Dortmund hat sich in den vergangenen Jahren als Hochburg exzellenter Musicalinszenierungen mit bemerkenswertem Tiefgang sowie  künstlerischem Einfallsreichtum ausgezeichnet. Immer wieder aufs Neue beweist die im Ruhrgebiet gelegene Oper ihren scharfsinnigen Blick für theatralen Glanz, der sich aus der enormen Qualität speist, die diese Kulturstätte ein ums andere Mal zu bieten hat. Mit "Sweeney Todd" widmet sich das Theater Dortmund in dieser Spielzeit einem besonderen künstlerischen Projekt, das sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene die Grenzen des Altbekannten verschiebt und den Zuschauer in einer spannenden Mischform des Musiktheaters mit der Vielschichtigkeit des menschlichen Daseins sowie der Abgründigkeit des psychologischen Zerfalls konfrontiert.

Erzählt wird die fesselnde Geschichte rund um das tragische Schicksal eines verzweifelten Mannes, den die Konfrontation mit Hinterlist und Niedertracht an den Rand seines eigenen Verstandes führt und ihn über die Klippe der Moral blicken lässt. 
Der Barbier Benjamin Barker kehrt als gebrochener Mann in seine Heimatstadt London zurück, wo er einst die große Liebe seines Lebens fand und nach Jahren des gemeinsamen Glücks auf tragische Weise verlor. Seit der durchtriebene Plan eines gierigen Neiders ihm Frau und Kind auf grausame Weise entrissen hat, ist für den einst so unbedarften, lebensfrohen Mann nichts mehr wie zuvor. Von Hoffnungslosigkeit und Desillusionierung getrieben sinnt Benjamin nach Vergeltung für das zerbrochene Lebensglück und kehrt mit einem Koffer voller Rachsucht in seine so emotional besetzte Heimat zurück. In der exzentrischen Pastetenbäckerin Mrs. Lovett findet der verzweifelte Mann dabei eine begeisterungsfähige Verbündete, die für den Schwarm ihrer Jugend bereitwillig die Tür zu ihrem Leben aufstößt und eifrig um die Gunst des Barbiers kämpft. Aus dem Zusammenschluss zweier Charaktere, die beide ihr jeweiliges Päckchen verletzter Gefühle zu tragen haben, entspinnt sich schließlich ein teuflischer Plan, der jegliche Grenzen menschlicher Moral verschiebt und eine blutige Spur der Verwüstung in den Schatten der Londoner Anonymität hinterlässt. Geboren aus der erdrückenden Last innerlicher Gebrochenheit und Verzweiflung erwächst bei Benjamin ein krankhaftes Verlangen nach Mord und Zerstörung, das den einst so rechtschaffenden Mann mit der neuen Scheinidentität des "Sweeney Todd" konfrontiert und den Salon des Barbiers in einen Ort des Grauens verwandelt.

               Foto: (c) Björn Hickmann

Dem Theater Dortmund gelingt es immer wieder aufs Neue exzellente Besetzungen hochkarätiger Künstlerinnen und Künstler zusammenzustellen, die für den Zuschauer auf einfühlsame Weise einen Blick in psychische Abgründe gewähren und in theatraler Pracht die Fragen nach Moral und den verschiedenen Gesichtern der Menschlichkeit eröffnen. Auch in dieser Spielzeit wird die Produktion des Dortmunder Hauses wieder einmal von einer großartigen Cast getragen, deren enorme Kraft sich aus dem gelungenen Zusammenschluss eines spiel- wie stimmstarken Ensembles und versierter Solisten speist.

Angeführt wird die Riege phänomenaler Künstler in dieser Spielzeit von Ausnahmetalent Morgan Moody, der in der Rolle des mordlustigen "Sweeney Todd" eine darstellerische Meisterleistung vollbringt, die stimmliche Brillanz und spielerische Hingabe in einem Gesamtwerk künstlerischer Ekstase vereint. In eben jener Darbietung lernt der Zuschauer sowohl die Identität des bürgerlichen Benjamin Barker als auch die grotesk verzerrte seelische Fratze des zunehmend dem Wahn erliegenden Sweeney Todds kennen.
Die figurale Abbildung bleibt keineswegs in einer zweidimensionalen Darstellung eines mordenden Rachsüchtigen verhaftet, vielmehr begibt sich der Darsteller auf die künstlerische Reise zu einer charakterlichen Vielschichtigkeit, die sich dem Zuschauer lediglich dank des unglaublichen Feingefühls sowie des spielerischen Geschicks Morgans in einer gewaltigen Eindringlichkeit präsentiert. Wie ein imposantes Mosaik setzen sich die einzelnen Facetten einer authentisch gezeichneten Figur im Kontext einer spielerischen Meisterleistung zusammen und schärfen in der Quantität farblicher Schattierungen nicht nur den Blick des Publikums für die den Charakter treibenden Intentionen, sondern offenbaren zugleich im Rahmen einer künstlerischen Feinarbeit das Innenleben einer Figur, die trotz der abgestumpften Routine des Mordens immer noch fähig ist zu fühlen und von einer Flut der Emotionen übermannt zu werden. Die Abstumpfung fungiert hier als Schutzmechanismus, der Benjamin Barker vor der Intensität der eigenen Empfindungen bewahrt und ihn in die neue Identität des skrupellosen Sweeney Todd kleidet. Morgan Moody gelingt es brillant, eben jene Dualität der Rohheit der Kunstfigur Todd und der Vulnerabilität Barkers in einer komplexen Figurenzeichnung zu vereinen, die von der schier umwerfenden Präsenz des Hauptdarstellers lebt. So scheint der Künstler mit seinen Blicken teils direkt in den Zuschauer zu dringen und in den Augen all das innere Leid sowie die Verzweiflung des Charakters zu spiegeln, die sich langsam aber stetig mit einer unaufhaltsamen Gier nach Vergeltung verflechten, und einen ganz eigenen figuralen Habitus zu kreieren, der zwischen düsterer Erhabenheit und innerer Gebrochenheit changiert. 
Abgerundet wird die Darbietung von einer gesanglichen Klasse, die die stimmliche Exzellenz des Bass-Baritons in jedem Ton offenbart. Kraftvoll erklingt die atemberaubende, warme Stimme in Gänsehaut zaubernder Manier und kleidet den gesamten Saal über den Abend hinweg in einer Schönheit musikalischer Strahlkraft aus.

Weiterhin hallt die schauspielerische Intelligenz Bettina Mönchs in aller Fulminanz und Qualität nach, mittels derer es ihr gelingt, eine rundum ausdrucksstarke Darstellung der "Mrs. Lovett" zu kreieren, die dem staunenden Zuschauer in aller spielerischen Raffinesse größten Respekt abverlangt. Mit sichtlicher Spielfreude sowie künstlerischem Esprit koloriert die Darstellerin das Bild einer sehr exzentrischen Frauenfigur, die ihrem Umfeld mit loser Zunge und kessen Worten begegnet und sich dabei ein ums andere Mal hinter dem sicheren Schutzschild der Schlagfertigkeit versteckt. Inbrünstig und voller spielerischer Leidenschaft wirft sich die Künstlerin in die Figurenzeichnung und spürt dabei in ihrer expressiven Darstellung ohne eine Spur der Zurückhaltung auch den manchmal doch sehr skurril und verdreht anmutenden Momenten der Figur nach, die nach einem stimm- wie körperbetonten Spiel verlangen. Voller Energie eröffnet sie eine substanzielle Interpretation der listigen Pastetenbäckerin, die in ihrer unbändigen Faszination für Benjamin einem blinden Eifer verfällt, der für sie einen Weg moralischer Graustufen und menschlicher Abgründe ebnet. Dabei gelingt es der Schauspielerin grandios, die tief verborgenen Emotionen der Figur mit einem nach außen lebenden, lauten Charakter voller schwarzem Humor zu verbinden, dem Bettina in ihrer pointierten Illustration der Figur Rechnung trägt.
Auch stimmlich bewegt sich die Darbietung auf einem, man muss bei dieser Grande Dame musikalischer Genialität ja schon fast sagen, gewohnt herausragenden Niveau, welches den Scheinwerfer auf Bettinas stimmliche Variabilität richtet. Präzise artikuliert sowie ausgezeichnet intoniert präsentiert die Vollblutkünstlerin im Rahmen ihrer narrativ angelegten Parts die Geschichte der abgeklärten Pastetenbäckerin, die sich gewieft durch die harten Zeiten Londoner Finsternis kämpft und mit ihrer durchtriebenen Cleverness monetären wie emotionalen Profit schlägt.

Jonas Hein verkörpert in spielerischer Erstklassigkeit die Rolle des "Anthony Hope", einem lebensfrohen, entdeckungslustigen jungen Seemann, der immer wieder abenteuerliche Reisen in abgelegene Länder unternimmt. Doch trotz aller Entdeckungsfreude und dem jugendlichen Fernweh entpuppt sich ausgerechnet das heimatliche London inmitten all der sonst so exotisch anmutenden Reiseziele als besonderer Glücksfall für den jungen Mann, als hier eines Tages die junge "Johanna" den Weg des Abenteuerers kreuzt.
Mit viel Fingerspitzengefühl koloriert Jonas einen verletzlichen, gutmütigen und gleichzeitig sehr agilen und körperbetonten Charakter, der willensstark um die Frau seiner Träume kämpft und dabei zugleich doch auch immer wieder droht, an seiner ihm tief eingeschriebenen Sanftmut und Großherzigkeit zu scheitern. Scharfsinnig und mit der notwendigen Sensibilität für den empfindsamen Kern des Charakters kreiert der Schauspieler eine offenherzige Figur, die in ihrer Reinheit und Wärme der sie umgebenden verbitterten Unwelt diametral entgegensteht. Veredelt wird die spielerische Darbietung von einer gesanglichen Qualität, die ausgezeichnete Technik und emotionales Gespür vereint. Jonas' warmes Timbre sorgt dabei immer wieder für staunende Verzückung beim geneigten Zuhörer und verschmilzt gemeinsam mit einem als musikalisches Stilmittel dienlichen Vibrato zu einem wundervollen Abbild klanglicher Harmonie. Diesen Eindruck unterstreicht auch das beeindruckende Falsett, dessen Exzellenz der Sänger mit sicherer Stimmführung immer wieder hervorzulocken vermag.

Die Rolle der jungen "Johanna Barker" verkörpert Harriet Jones mit Bravour und erweckt eine authentische, trotz aller harten Umstände in ihrer warmherzigen Art ungebrochene Fassung einer unschuldigen Frau zum Leben, die sich in ihrem heimatlichen Gefängnis nach der Weite der Welt und dem Duft der Freiheit sehnt. Grandios durchlebt die Schauspielerin auf der Bühne eine glaubwürdige Entwicklung von einer neugierigen jungen Frau mit sonnigem Charakter hin zu einer kämpferischen,  mutigen Persönlichkeit, deren zunehmendes Gefühl der Verzweiflung einen Mechanismus des tapferen Kampfes um das eigene Lebensglück anstößt. Dank eines sicheren schauspielerischen Handwerks zeichnet die Künstlerin in Mimik und Intonation ein bewegendes Bild der jungen Johanna, die zunehmend unter der strengen Hand ihres Ziehvaters leidet, welche keinerlei Ausflüge in die Lebendigkeit der Welt duldet, und immer wieder droht, an der in den Schatten des Heims lauernden Einsamkeit zu zerbrechen.
Herausragend mimt Harriet eine Figur, die
sich lange Jahre den Anweisungen ihres Vormunds ergibt, doch bei einem Blick hinter die Fassade des kontrollwütigen Mannes zunehmend erkennen muss, das dunkle Begierden und niederträchtige Absichten in der scheinbaren Sicherheit des vertrauten Heims schlummern. Mit glockenheller Stimme intoniert die Künstlerin dabei die ihr zugeschriebenen Arrangements in zauberhafter Manier und erweist sich dank ihres beeindruckenden technischen Repertoires als ideale Besetzung für die lyrisch anmutenden Partien. In sicherer Stimmführung bewegt sich die Sängerin leichtfüßig durch die ihr angetragene tonale Bandbreite und weiß dabei insbesondere in den hohen Lagen zu strahlen.

In der Rolle des jungen "Tobias Ragg" vermag Julius Störmer auf ganzer Linie zu überzeugen, dem es herausragend gelingt, eine liebenswert tollpatschige Bühnenfigur zu kreieren, die in ihrer Unbedarftheit anrührt. Feinfühlig erweckt der Darsteller den ein wenig naiv agierenden und zugleich unglaublich gutherzig und strebsam erscheinenden jungen Mann zum Leben, der sich nach Anerkennung und echter Zuneigung sehnt. In scheinbarer Leichtigkeit mimt der Künstler einen Charakter voller unbeholfener, ja oftmals schon beinahe kindlicher Züge, die mit dem Wunsch kollidieren, als tapferer Held in strahlender Rüstung wahrgenommen zu werden. Insbesondere die aufkeimende Vernarrtheit mit Blick auf die exzentrische Mrs. Lovett, die sich in Tobis Wahrnehmung irgendwo zwischen fürsorglicher Mutterfigur und begehrenswerter Partnerin fürs Leben bewegt, treibt den jungen Mann zunehmend an, seine eigenen Grenzen zu überwinden und seine Treue sowie seinen jugendlichen Tatendrang unter Beweis zu stellen. Hervorragend spannt der Künstler den Bogen des figuralen Wandels über die gesamte Vorstellung hinweg und entwickelt nuanciert den Charakter eines unsicheren Jungen, dem soziale Interaktion anfänglich hin und wieder Schwierigkeiten bereitet und der sich lediglich in erlernten, vorgegebenen Strukturen so richtig wohlfühlt, hin zu einem selbstbewusster auftretenden Mann, der hinterfragt und reflektiert. 
Julius ergänzt seine spielerische Sensibilität um eine gesangliche Souveränität, die die Darbietung des jungen Künstlers perfekt abrundet. Feingeistig reichert der Tenor seinen gesanglichen Auftritt mit einem Ausdruck tiefen Empfindens an, der der musikalischen Ausgestaltung eine besondere Lebendigkeit und inhaltliche Tiefe zuspricht und von den stürmischen Gefühlen des jungen Charakters erzählt.

                Foto: (c) Björn Hickmann 

Die Rolle des Richters "Turpin", der durch eine List Benjamin seine geliebte Frau entrissen und sich zum neuen Vormund seiner Tochter erklärt hat, verkörpert Andreas Laurenz Maier mit viel spielerischer Souveränität und kreiert so einen eigenen gebieterischen Habitus des Charakters, der von einer gefährlichen Mischung aus Gier, Verlangen und Größenwahn belebt wird. Dabei kommt dem Künstler insbesondere seine beeindruckende Präsenz auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zugute, dank derer er den Charakter mit markanten Konturen auszustatten weiß. Sprachliche wie gesangliche Intonation, Gestus und Mimik, Andreas bedient sich in pointiertem Spiel aller darstellerischen Ebenen, um die Figur in eigener Handschrift zu umzeichnen und dabei als charakterstarker Schauspieler die Blicke des gesamten Publikums an seine energetische Darbietung zu fesseln. Dank der darstellerischen Klasse des Künstlers wird das Publikum auf erschreckend authentische Weise mit der Kälte und Gier, den Besitzansprüchen sowie dem lodernden Verlangen Turpins konfrontiert, welches er auf seine vermeintliche Zieh-Tochter projiziert und in abstoßenden Taten zur Schau trägt. So entwickelt sich das ausgeprägte Bild eines narzisstischen Antagonisten, der sich in seiner gesellschaftlichen Sphäre mit dem Verständnis eines skrupellosen Monarchen bewegt, welcher über seine Umwelt regiert und ohne Rücksicht auf Verluste verletzt, quält und ausbeutet. Sublimiert wird die spielstarke Darbietung von einer gesanglichen Qualität des Bassbaritons, der mit sicherer Stimmführung zu glänzen vermag.

An seiner Seite überzeugt Florian Sigmund als durchtriebener Gehilfe "Büttel Bamford", den der Darsteller mit viel spielerischem Pfiff in der nötigen düsteren Attitüde einfärbt. Spielerisch herausragend kreiert der Künstler eine abgestumpfte Figur, die mit einer erschreckenden Gleichgültigkeit die Befehle ihres Herrn ausführt und dabei weder Mitleid noch Gnade kennt. Der assistierende Gauner macht sich dabei jedoch selten selbst die Hände schmutzig, sondern versteht es vielmehr meisterhaft, Angst und Schrecken zu verbreiten, Demut vor dem Willen des Richters einzufordern und mit Drohgebärden auf mögliche Konsequenzen eines Missachtens eben jenen Willens hinzuweisen. In schneidendem Ton und in figural charakteristischen Gesten interpretiert Florian den oftmals im Hintergrund agierenden und delegierenden Gehilfen ausgezeichnet und schafft insbesondere auf non-verbaler Ebene ein eindrückliches Portrait, sodass es nicht vieler Worte bedarf, um zu verstehen, welche Skrupellosigkeit dieser Figur innewohnt. Kombiniert wird die spielerische Qualität mit einer mindestens ebenso bemerkenswerten Präzision in den gesanglichen Parts, die den Herausforderungen der musikalischen Arrangements gänzlich gerecht wird.

Nina Janke vollbringt eine rundum grandiose künstlerische Leistung in der Rolle der mittellosen Bettlerin, die sich in Armut und Tristesse durch die Straßen Londons schlägt und ein Leben führt, das wohl mehr die Bezeichnung des reinen "Überlebens" verdient hat. Schauspielerisch exzellent verleiht die Darstellerin der undurchschaubaren Figur ein geheimnisvolles Gebaren, das zwischen Wahn und prophetischem Blick changiert. Fällt die verarmte Frau immer mehr den Gespenstern ihres psychischen Verfalls zum Opfer, blitzen doch in all den wahnhaften Momenten der Figur auch immer wieder kleine Augenblicke der Erkenntnis und doppeldeutige Äußerungen auf, die in aller Rätselhaftigkeit aufhorchen lassen. Nina Janke vermag es fabelhaft, den undurchschaubaren Typus des gänzlich mysteriös anmutenden Charakters zu forcieren und mit ihrer Stimme im Sinne einer narrativen Instrumentierung zu spielen. Technisch sehr gekonnt setzt die Sängerin dabei den nötigen Twang ein und öffnet Ressonanzräume, die der stimmlichen Darbietung entsprechend der figuralen Ambivalenz einen Facettenreichtum im Kontrast zwischen zart anmutenden Tönen und durchdringenden, scharfen Klängen schenken.

Die Geschichte rund um den an den Ungerechtigkeiten der Gesellschaft zerbrechenden Benjamin Barker ist packend wie verstörend zugleich und spürt der Frage nach, inwiefern menschliches Leid und Ungerechtigkeiten das Bösartige in der Welt reproduzieren, und inwieweit Opfer und Täterschaft manchmal im Sinne eines erschreckenden Konglomerats aus Verzweiflung und Skrupellosigkeit zusammenfallen können. Bemerkenswert gestaltet sich innerhalb der Produktion insgesamt der kluge erzählerische Aufbau, der in seiner Beschaffenheit der narrativen Zuspitzung beinahe an den typischen Aufbau des klassischen Dramas erinnert, indem sich prototypische Grundstrukturen - wie die einführende Exposition, der Höhepunkt, vor dessen Hintergrund Sweeney Todd endgültig dem Wahnsinn zu verfallen scheint, das retardierende Moment, welches in der stetigen Steigerung einen Spannungsaufbau im Kontext einer Verzörung in der Tragik generiert, und die darauffolgende Katastrophe - zu einer dramatischen, einen großen Spannungsbogen umzeichnenden Erzählung vereinigen. Das Stück bringt eine Ereigniskette in Gang, die an sich gegenseitig anstoßende Dominosteine erinnert und damit eine stetige Potenzierung des Wahnsinns mit Dramatik belebt. Schonungslos wird das Publikum mit unaufhaltsamen Gräueltaten konfrontiert und wird dabei Zeuge einer tragischen Geschichte, welche aus der strukturellen Gestaltung einer äußerst stimmungsgewaltigen wie emotionalen Narration heraus eine theatrale Wucht entwickelt, die dem Zuschauer nicht selten das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Die Dortmunder Inszenierung bringt das hoch atmosphärische Werk im Rahmen einer kunstvollen Düsternis auf die Bühne, die sich für drei Stunden über den gesamten Theatersaal legt und den Zuschauer auf eine Reise zwischen Abscheu und Mitleid entführt - zwei scheinbar konträre Empfindungen, die hier in einem Bild der Schattierungen zusammenfallen, welches auf bemerkenswerte Weise vor Augen führt, dass Menschlichkeit lediglich im Kontext vieler Graustufen verstanden werden kann. Vulnerabilität wie Emotionalität lassen sich nicht in ein rigides Schema von Schwarz und Weiß pressen. 
Gerade jene Produktionen, die in solch eindringlicher Weise bis in den Kern des menschlichen Wesens dringen, bedürfen einer in gleichem Maße ausdrucksstarken wie einfühlsamen Inszenierung, die die kreativen Köpfe entsprechend vor große Herausforderungen stellt. Regisseur Gil Mehmert ist mit "Sweeney Todd" abermals eine kreative Ausgestaltung der Extraklasse gelungen, die den eindringlichen Stoff des Musicals mit inszenatorischen Kniffs sowie visuellen Anreizen rahmt und die Produktion zu einem intensiven Erlebnis der Immersion erhebt. So gelingt es der Inszenierung beispielsweise hervorragend, die Enge und Repression spürbar zu machen, welche den Charakteren in ganz unterschiedlich gelagerten Situationen begegnen.
Zudem generiert die Inszenierung eine besondere bildliche sowie symbolische Wirkkraft, die in einem präzisen Spiel mit optischer Versprachlichung wurzelt. So bleibt ein Großteil des Ensembles beispielsweise die gesamte Vorstellung über unter Masken verhüllt - eine Tatsache, die sich als Sinnbild der in dieser Geschichte ausdrucksstark gezeichneten Frage nach der Konformität des Individuums lesen lässt. Verliert die Hauptfigur immer mehr den Blick für den einzelnen Menschen und verlernt in ihrer blinden Rachsucht die Fähigkeit, zwischen der Vielzahl einzigartiger Charaktere zu unterscheiden, erhebt sich entsprechend parallel die Verbildlichung der Gleichheit des Menschen im Tode. Gesichter verschwinden hinter der Maske des todgeweihten Schicksals und das akkordhafte Morden, das immer mehr Opfer fordert, weckt in der Darstellung Analogien zu den mittelalterlichen Totentänzen, die die Blindheit des Todes für das einzelne Individuum bereits vor einigen Jahrhunderten in ähnlicher Form zu abstrahieren wussten. Auch Johannas blütenweißes Kleid wird zu einem sprechenden Objekt, indem es als Symbol der Reinheit und Unschuld perfekt den figuralen Typus visuell widerspiegelt. 

                 Foto: (c) Björn Hickmann 

Die musikalische Linie Stephen Sondheims folgt der düsteren Erzähllogik der gesamten Geschichte und bedient sich schauerlicher Motive der Horrorszene, die hier in eindrucksvoller Imposanz erklingen. Die Partitur verlangt nach einem Prozess des Hineindenkens und -hörens, der Eingängigkeit gegen erzählerische Komplexität eintauscht. Die Musik dient dabei in erster Linie als narratives Instrument, das das Geschehen versprachlicht und die Handlung vorantreibt. Entsprechend webt sich der Klangteppich nicht aus klassisch fließenden, eingängigen und durchweg harmonischen Fäden, sondern entspinnt sich vielmehr als ein akustisches Abbild der fesselnden Geschehnisse auf der Bühne, das auch nicht davor zurückschreckt, mit Dissonanzen und musikalischen Spitzen zu spielen und den Hörer in seinem exzeptionellen Erzählcharakter zu fordern. Dabei verbindet die Linie Sondheims operettengleiche Auszüge mit akustischen Topoi der Düsternis und des Schreckens zu einem intensiven Klangerlebnis, dessen Gehalt sich insbesondere aus der besonders atmosphärischen Kraft der Melodien speist. Der Dortmunder Inszenierung gelingt es, eben jene vielschichtigen Stücke Sondheims mit einem gewaltigen Klang zu unterfüttern, welcher in der Opulenz des beeindruckend stimmstarken Opernchores sowie des Dortmunder Orchesters wurzelt. Unter der Leitung von Koji Ishizaka spielen die Dortmunder Philharmoniker schwungvoll wie energetisch auf und beleben die musikalischen Arrangements in diesem Zuge mit einer erzählerischen Kraft der präzisen Ausgestaltung. Meisterhaft spricht das rund 40-köpfige Ensemble brillanter Musiker den Kompositionen eine klangliche Fulminanz zu und präsentiert ein feinsinniges akustisches Bild, das von punktgenau gesetzten Akzenten und farbigen Nuancen lebt.

Weiterer Träger der besonderen Atmosphäre, die sich für dieses Musical als so charakteristisch erweist, ist in jedem Fall die eindrucksvolle Bühnengestaltung, die die Abgründigkeit und Finsternis der Geschichte konturenstark visualisiert und den schaurigen Charme der Produktion in ideenreicher Ausgestaltung betont. Die Grundstrukturen des Bühnenbildes von Jens Kilian sind dem geneigten Musicalbesucher bereits durch vorherige Inszenierungen am Theater Dortmund bekannt, was die sich in jeder Spielzeit aufs Neue einstellende Faszination jedoch keinesfall mindert - ganz im Gegenteil. Die Kulisse bei "Sweeney Todd" wird von einem überdimensionalen Ofen dominiert, der als Fassade verschiedener Orte des Geschehens fungiert und abermals in symbolischem Einfallsreichtum auf die Grundthematik verweist. Der Ofen, in dem die Gräueltaten des schaurigen Duos Lovett und Todd ihren finalen Höhepunkt finden, wird hier zur bildlichen Rahmung der gesamten Geschichte und bettet die Aufführung somit von Beginn an in ein makaberes Portrait des Verfalls. Das Bühnenbild fungiert in seiner gesamten Ausgestaltung als ein Spiegelbild der nihilistischen Grundordnung, die diesen "horroresken" Theaterabend determiniert. Obwohl sich an der grundsätzlichen Konstruktion des Bühnenbildes über den Abend hinweg gar nicht sonderlich viel verändert, fällt es dem Zuschauer dank der visuell aufgebauten Sogkraft doch leicht, den stetigen Ortswechseln zu folgen und zwischen der von Düsternis gezeichneten Pastetenbäckerei, dem schicksalsträchtigen Salon des Barbiers sowie dem Hause des Richters, in dem die Gesetze abgründiger List und lodernden Verlangens regieren, zu wandeln.

In der Geschichte morbide, makaber und hochgradig verstörend, in der Umsetzung detailverliebt, hochwertig und rundum herausragend - "Sweeney Todd" präsentiert sich in der Oper Dortmund als exzellentes Opus künstlerischer Feinarbeit und kreativen Geschicks. Bildgewaltig und stark symbolisch aufgeladen kommt die Produktion als stimmungsgewaltiges Gesamtkunstwerk daher, das in allen künstlerischen Dimensionen mit dem Wort "intensiv" zu beschreiben ist. Eindrucksvoll spannt sich im Laufe des Abends ein starkes Band der Atmosphärik über den gesamten Theatersaal, das die Produktion in ein schauriges, Gänsehaut verursachendes Licht taucht. Doch dabei versteht sich das Stück keinesfalls als ein effekthascherisches Abbild eines reinen Horrorszenarios, sondern entpuppt sich vielmehr als psychologisch tiefgründiges Produkt, das den Wert sowie den Zerfall der Menschlichkeit in den Mittelpunkt der inszenatorischen Ausgestaltung rückt. Präsentiert wird das Abbild einer zerrütteten Gesellschaft, in der sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet und sich in aller Differenz der Lebensumstände und inmitten der asymmetrischen Grundstrukturen Möglichkeiten des Machtmissbrauchs auftun, die letztlich einen hohen Preis fordern.
In ausdrucksstarker Umsetzung geht das Musical der Frage nach, was einen Menschen dazu veranlassen kann, das innere Monster aus den Ketten der Moral und Humanität zu befreien und es in aller Entfesselung auf die Suche nach Opfern zu entsenden. Die einzelnen Elemente eines qualitativ hochwertigen Theatererlebnisses greifen hierbei brillant ineinander und entwickeln ein visuell wie akustisch bemerkenswertes Bild, das sich insbesondere dank der versiert geführten Pinselstriche aller Künster*innen auf der Bühne zu einem stark konturierten Kunstwerk erhebt, wodurch sich für den Rezipienten ein Tor zu menschlichen Abgründen und psychischem Verfall öffnet und der Zuschauer geradewegs in ein theatrales Meisterwerk einer Ästhetik der Abscheulichkeit katapultiert wird. Bedrückend und aufwühlend zugleich hält die Produktion nicht nur im schauerlichen Herbst zahlreiche Gänsehautmomente bereit.
Also, vernehmt das Los von Sweeney Todd und werdet Zeuge einer tragischen Geschichte, die sich auf den ersten Blick der Register simplen Horrors bedienen mag, doch ihr eigentliches Grauen aus der psychologischen Komplexität menschlicher Konfrontationen mit Ungerechtigkeit, Einsamkeit und dem überwältigenden Gefühl der Ausweglosigkeit entwickelt. 

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