Zwischen lyrischen Klängen und düster-diabolischen Verstrickungen - Faust, ein großer Literaturklassiker im kunstvollen Operngewand

Was erwartet dich bei einem Blick in den Spiegel der Gesellschaft? Ist es die klare Kontur einer moralischen Ausrichtung oder vielleicht das bunte Funkeln einer Konformität der Individualität? Oder erspähst du vielleicht sogar den Schatten, der sich aus der Dunkelheit des lustvollen Treibens und des selbstüberzeugten Richtens einer doppelgesichtigen Masse schiebt - ganz lautlos und subtil und doch so kraftvoll und bedrohlich...? 
Johann Wolfgang von Goethe ist es bereits vor mehr als 200 Jahren gelungen, diese allgegenwärtigen, zeitlosen Fragen rund um den Einzelnen inmitten einer starr ausgerichteten Gesellschaft sowie den Sinn der eigenen Existenz im Angesicht der menschlichen Unwissenheit und Vergänglichkeit zu antizipieren und in seine bis heute weltbekannte Tragödie "Faust" zu überführen. Auch Jahrhunderte nach der Publikation des literarischen Werkes hat der deutsche Klassiker nichts an Genialität eingebüßt. Umso verständlicher, dass der Stoff in der Vergangenheit als intertextueller Anker für zahlreiche Adaptionen gedient hat. Mit der Oper "Faust" hat sich die Oper Wuppertal in dieser Spielzeit für die Umsetzung einer solchen musikalischen Verarbeitung eben jenes großen Dramas entschieden, das auf eine beeindruckend lange Rezeptionsgeschichte zurückblickt. In aufwendiger Inszenierung der musikalischen Fassung des Franzosen Charles Gounod präsentiert das Wuppertaler Kulturhaus die weltbekannte Geschichte rund um das innere Streben, welches auf die List eines teuflisch durchdachten Plans trifft, mit viel Fingerspitzengefühl und Kreativität und kleidet den eindringlichen Klassiker in ein eigenständiges Gewand anspruchsvoller Theaterkunst. Angelehnt an ein Originalzitat aus dem Text Goethes, eröffnet die Produktion einen einzigartigen Blick auf schicksalhafte Wendungen, die dem Publikum - dargeboten in kunstvoller Manier - vor Augen führen, welche Kraft das Theater auf die menschliche Seele ausüben kann, sodass sich ein Abend in der Oper vermutlich mit folgendem Satz am besten umschreiben lässt: "Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein."

       (c) Matthias Jung / Oper Wuppertal 
 
Die Oper erzählt die dem gleichnamigen, bis heute unvergessenen Literaturklassiker "Faust" nachempfundene Geschichte rund um einen verhängnisvollen Pakt mit dem Teufel, der die Welt so manchen Erdenbürgers nicht weniger als aus den Angeln heben und scheinbare Freude in dem dunklen Pech frivoler Machenschaften ertränken soll. 
In der Konfrontation mit dem nahenden Lebensabend stürzt der studierte und belesene Doktor Faust in eine tiefe Sinnkrise, denn aus der Retrospektive betrachtet erscheint sein bisheriger Lebensweg trotz all der Arbeit und Mühen doch so furchtbar sinnlos. Was nützt all das Streben, wenn man am Ende des Lebens besiegt von der Vergänglichkeit doch ernüchtert erkennen muss, wie flüchtig das Vergnügen und wie enigmatisch doch die Welt ist? Wie kann es Erkenntnisreichtum geben, wenn der Mensch doch täglich mit der eigenen Unwissenheit konfrontiert wird,  und wie soll man gehen, wenn man doch noch gar nicht angekommen ist, nie gelebt und nie geliebt hat? Die nagenden Zweifel sowie die Gefühle der zunehmenden Hoffnungslosigkeit und Desillusionierung lassen Faust nicht nur die Hand nach dem Selbstmord ausstrecken, sondern führen ihn schließlich auch dazu, einen Handschlag mit dem Teufel persönlich einzugehen und damit einen Pakt zu besiegeln, der wie ein Versprechen auf das große Seelenheil erscheint, sich jedoch zunehmend als gifitge Wurzel allen Übels entpuppt. Blind vor Liebe zu der jungen Marguerite, die dem Gelehrten als Abbild der dämonischen Vision erscheint, verpflichtet sich Faust der dunklen Seite und erkauft sich die Versprechen von Jugend und großer Liebe um keinen geringeren Preis als seiner Seele selbst. So arrangiert Mephisto für seinen neuen Schützling nach geglückter Verjüngung eine scheinbar zufällige Begegnung mit der von Faust so sehnsuchtsvoll erwarteten Marguerite und lässt sein manipulatives Geschick spielen, um die Beiden im Zuge einer teuflischen List zu vereinen. Doch schon bald muss Faust erkennen, welche Konsequenzen ein Pakt mit dem Teufel höchstpersönlich nach sich zieht, und dass man sich beim Spiel mit dem Höllenfeuer ganz schnell die Finger verbrennen kann, denn was als verheißungsvolle Romanze beginnt, droht schon bald in einer ausgewachsenen Katastrophe zu enden, die ihren Tribut fordert...

        (c) Matthias Jung / Oper Wuppertal 

Krankheitsbedingt steht an diesem Abend nicht Erstbesetzung Sangmin Jeon in der Rolle des "Doktor Faust" auf der Bühne, stattdessen springt Yoonki Baek ein, der jene große Figur der Weltliteratur mit gesanglicher wie spielerischer Vortrefflichkeit zu beleben weiß. Herausragend mimt der Künstler die Figur des innerlich gebrochenen, verzweifelten Gelehrten, den die fundamentale Not der eigenen Entwurzelung geradewegs in die Arme einer existenziellen Sinnkrise treibt. In seinem Spiel vermag es der Darsteller brillant, einen spielerischen Bogen zu spannen zwischen der anfänglichen Darbietung des alternden einsamen Doktors, den der süßlich-giftige Duft des Aufgebens in der Konfrontation mit der eigenen inneren Leere umgibt, und der verwandelten Version eines verjüngten Mannes, dessen Reise mit der teuflischen Zeitmaschine ihn wieder in den Frühling seiner Lebenszeit katapultiert und ihn mit großen Emotionen der Liebe und des Begehrens konfrontiert. Beklagt der Protagonist in der narrativen Introduktion des dramaturgischen Grundkonflikts noch die Flüchtigkeit des Lebens, die ihn mit dem Prozess des Alterns sowie der Vergänglichkeit der Freuden konfrontiert, verwandelt sich die Bühnenfigur dank der spielerischen Präzision Yoonki Baeks im nächsten Moment zu einer stürmischen Persönlichkeit voll drängendem Verlangen nach der schönen Marguerite - jedoch ohne dabei den Blick für die unabhängig von der jeweiligen Lebenssituation dominierenden charakterlichen Merkmale des Wankelmutes und der Impulsivität des Mannes zu verlieren, die sich als roter Faden durch die figurale Entwicklung spinnen. Virtuos führt der exzellent ausgebildete Tenor mit stimmlicher Sicherheit durch die musikalische Linie des verzweifelt-schmachtenden Liebhabers, der sich nach der reinen Seele Marguerites verzehrt, und erfüllt mit seinem warmen, hell strahlenden Timbre den Theatersaal bis in den letzten Winkel.

Margaux de Valensart bezaubert in der Rolle der jungen "Marguerite", die sie mit künstlerischer Finesse und stimmlicher Filigranität meisterhaft zu füllen vermag. In einem wunderschönen stimmlichen Duett aus gesanglicher Grazilität und klanglicher Souveränität intoniert die Sängerin die ihr angedachten Arien, spielt federleicht mit kunstvollen Koloraturen und entpuppt sich damit in Windeseile als optimale Besetzung für die auf mehreren Ebenen des künstlerischen Schaffens fordernde Figur. Mit glockenheller, feingeschliffener Stimme bettet Margaux de Valensart die Melodien Gondous in einen dem Oxymoron des Kraftvoll-Zerbrechlichen verschriebenen Klangkorpus und legt somit bereits gesanglich die charakterlichen Tiefenstrukturen einer Protagonistin offen, die sich nach außen hin eher unsicher und zurückhaltend zeigt und innerlich zugleich eine enorme Stärke in sich trägt. Voller Feingefühl verkörpert die Künstlerin die Figur eines frommen, gottesfürchtigen Mädchens, das in seinem Leben bereits viele tragische Schicksalsschläge einstecken musste und dennoch bedingungslos der Kraft des Guten vertraut. Mit reiner Seele und einnehmender Herzenswärme streift Marguerite durch eine von Verlusten geprägte Welt, die sie immer vehementer an den Rand des Erträglichen stößt und verfängt sich schließlich in der Verinnerlichung der gesellschaftlichen Verurteilung. Sensibel offenbart Margaux de Valensart den Prozess des Scheiterns an moralischen Normen sowie der zunehmenden Erfahrung sozialer Isolation, koloriert die mit dem psychischen Verfall einhergehende charakterliche Entwicklung des leidgeprüften Mädchens, das immer tiefer in die Dunkelheit der Verzweiflung und Ausweglosigkeit getrieben wird, mit sicherem künstlerischem Pinselstrich und umzeichnet phänomenal die Konturen einer verschüchterten, scheuen jungen Frau, die in ihrer Begegnung mit dem umwerbenden Faust zunächst an Mut und Lebendigkeit gewinnt, und doch schon bald den Schatten der kurzzeitigen Leichtigkeit erkennen muss.

        (c) Matthias Jung / Oper Wuppertal

In der Figur des durchtriebenen Gefährten "Méphistophélès", der geradewegs der Hölle entstiegen ist und als Teufel das Böse unter den Menschen sät, begeistert Almas Svilpa. Spielstark formt der Künstler auf der Bühne eine Teufelsfigur in Menschengestalt, die als berechnender Stratege und unnahbarer Egozentriker wie ein Puppenspieler die Menschen auf der Erde als Marionetten für sich tanzen lässt und sich selbst zum Lied der Pefidität wiegt. Dem Darsteller gelingt es hervorragend, die Rolle des dunklen Verführers und Peinigers, der im wahrsten Sinne des Wortes einen teuflisch-durchtriebenen Plan verfolgt und fein säuberlich jene Fäden spinnt, welche das Netz der Ausweglosigkeit enger schnüren, mit künstlerischem Scharfsinn anzureichern und einen ganz eigenen Habitus zu kreieren, der sich aus anmutigen, Überlegenheit demonstrierenden Bewegungen sowie einer puren Eleganz der Boshaftigkeit speist. In seiner Darstellung betont er dabei durchweg die Freude des Nihilisten, aus seiner Maskierung heraus das Geschehen zu lenken und die Vorteile seiner superioren Rolle genussvoll auszukosten. 
Klanglich weiß der Bass-Bariton mit seiner kraftvollen Stimme an den starken Spielcharakter der Figur anzuknüpfen und die Rolle des Mephisto mit einem die geheimnisvolle Aura des Teufels auch klanglich abbildenden tiefen Timbre zu unterlegen. Eine rundum beeindruckende Leistung, die insbesondere in jenen eindringlichen Momenten ihre Veredlung findet, in denen die Kraft des Fortissimo durchschlägt und die volle Stimmpracht des Künstlers erblüht.

Weiterhin überzeugt Zachary Wilson in der Rolle des jungen Soldaten "Valentin" auf ganzer Linie und kreiert eine stimm- wie spielstarke Fassung von Marguerites selbstbewusstem Bruder, der kriegsbedingt seiner Heimat den Rücken kehren und in den Kampf ziehen muss. Zurück lässt er die um sein Leben bangende Schwester, die sich täglich nach ihrem Bruder als familiärer Anker sehnt und deren tragisches Schicksal final doch von dem einst so bewunderten Valentin besiegelt wird. Zachary Wilson mimt die anfänglich beinahe schon heroische Bruderfigur mit sichtlicher Spielfreude sowie künstlerischer Intelligenz und stattet seine Darstellung mit einer dem standhaften Charakter angemessenen Souveränität aus. Als besonders bewegend präsentiert sich hierbei die feinfühlige Gestaltung der Abschiedsszene, im Rahmen derer er Marguerite kurz vor seinem Ableben die entsetzliche Last der Schuld aufbürdet und sie öffentlich diffamiert.
Trotz der nicht ganz üppigen Anzahl solistischer Auftritte, wird in der Perfektion der musikalischen Darbietungen schnell die besondere Gesangsqualität des Künstlers transparent, dank derer es dem versierten Bariton mit scheinbarer Mühelosigkeit gelingt, die ihm zugedachten Arien der französischen Oper in ein wahres Strahlen stimmlicher Brillanz einzuhüllen. Mit warmer und zugleich kraftvoller Stimme intoniert Zachary akkurat wie finessenreich und legt den Zauber von Gondous musikalischem Opus gekonnt offen. 

        (c) Matthias Jung / Oper Wuppertal

Die Oper besticht nicht nur durch die großen Arien der Hauptsolisten, die die figuralen Säulen der Produktion zum Leben erwecken, sondern sie zeichnet sich gleichermaßen auch durch die imposanten Chornummern aus, die den perligen Soli energetische Ensemblenummern entgegenstellen. In der Oper Wuppertal werden eben jene großen Chorstücke dank der stimmlichen Fulminanz vom Opernchor in Kombination mit dem "Extrachor" der Wuppertaler Bühnen mit einer gehörigen Portion Virtuosität versehen. Wohklingend vereint sich die Vielzahl kraftvoller Stimmen zu einer exquisiten Symbiose, die sich feierlich der nuancierten Partitur des französischen Komponisten widmet. Besonders hervor sticht unter anderem Edith Grossman, die die Figur des Liebhabers und treuen Gefährtens "Siébel" mit spielerischer Leidenschaft modelliert und in ihrer künstlerischen Expression einen umsichtigen Charakter erschafft, der sich mitfühlend in die tragische Lebensrealität seiner Angebeteten Marguerite einfühlt und in seiner stummen Liebe aus der Ferne versucht, sie vor Gefahren zu bewahren. Ebenso vermag auch Vera Egorova mit ihrer Darstellung der koketten Grand Dame "Marthe" zu begeistern, deren komödiantisch angehauchte Silhouette die Künstlerin insbesondere im Zusammenspiel mit Bühnenpartner Almas Svilpa geschickt herauszustellen weiß. 

Die Oper kleidet das literarische Werk Goethes in ein imposantes musikalisches Gewand und erzählt die Tragödie im Allgemeinen originalgetreu und dabei doch zugleich überraschend neu. Die gesamte Produktion ist von einer Vereinigung romantischer wie düster-diabolischer Facetten geprägt, die im Sinne einer musikalischen Melange aus lieblichen lyrischen Klängen und dramatischen Crescendi verschmelzen und die Opermusik entsprechend der in die christliche Glaubensthematik eingebetteten Handlung stellenweise um kirchlich anmutende Klänge ergänzen. Die musikalischen Arrangements leben von einer eindrucksvollen Dynamik, die zum musikalischen Abbild dramatischer narrativer Verwicklungen und schicksalhafter Momente wird. Große Arien, die von der Tragik des Dargebotenen künden, vereinigen sich mit stattlichen Chornummern, die der gesamten Oper eine musikalische Fundamentalität verleihen. Vitalisiert werden die wunderbar-stimmungsvollen Melodien mit Tiefgang von einem exzellenten Synphonieorchester, das unter dem empfindsamen Dirigat von Johannes Witt zur Höchstform aufspielt und die stimmlichen Ausnahmeleistungen der Sänger*innen mit instrumentaler Opulenz kombiniert. Im einfühlsamen Spiel mit Akzentuierungen sowie der Variabilität des Klangs entlockt das stark besetzte Orchester der Partitur Gounods über den Abend hinweg ihre volle Strahlkraft und reichert die musikalische Linie mit einer solchen Dynamik an, dass jede Melodie sich als eigenes klangliches Erlebnis entpuppt. 

       (c) Matthias Jung / Oper Wuppertal 

Orientiert an der Struktur des großen Klassikers der Literaturgeschichte führt die Produktion durch die dramatische Geschichte und verschiebt dabei zugleich ganz gekonnt den Fokus des Erzählten, indem Marguerites Schicksal nicht mehr als Verästelung des Faustschen Erlebens thematisiert wird, sondern die Geschichte rund um die junge Frau vielmehr als eigenständiger Kern der Tragödie offengelegt wird und damit in seiner Intensität eine Aufwertung erfährt. Als gebannter Beobachter verfolgt der Theaterbesucher den dramatischen Leidensweg Marguerites, der sie immer näher an die Pforte der Hölle führt und der leidgeprüften Frau stetig neue Bürden auferlegt. 
Ebenso rücken in der Opernfassung Gounods auch die in Goethes Tragödie breit aufgefächerten transzendenten und metaphysisch beheimateten Fragen zugunsten eines ganz lebensweltlichen Konflikts, entsprungen aus der greifbaren Angst, das eigene Leben verpasst und die irdischen Genüsse versäumt zu haben, in den Hintergrund. Die identitären Fragen entfalten sich hier vielmehr aus dem Wunsch nach Freiheit und der Sehnsucht nach Liebe heraus, als aus existenziellen Sinn- und Erkenntnisfragen, die Faust zu Beginn von Goethes Werk beinahe zum scheinbaren Ausweg des Suizids greifen lassen. In den feinen Anpassungen der Theaterproduktion eröffnet sich für den geneigten Literaturliebhaber die Möglichkeit, sich der musikalischen Umsetzung des großen Klassikers hinzugeben und dabei doch zugleich einen etwas veränderten, in den Nuancen anders konturierten Blick auf die Geschichte der in ihrem Schicksal verwobenen Charaktere zu werfen.

Besonderen Beitrag zu diesem eindrücklichen Theatererlebnis leistet das mit Raffinesse wie kreativem Scharfsinn gestaltete Bühnenbild von Matthew Ferraro, welches die musikalische Exzellenz in einen dieser Klasse ebenbürtigen visuellen Rahmen zu kleiden weiß. Die Kulisse lebt von einem Mechanismus der Drehbühne, der dank klug gewählter Akzente an verschiedene Schauplätze zu entführen und so visuell eine Chronologie des Erzählten aufzubauen vermag. Mit kleinen Kniffs verwandelt sich die Bühne mal in ein von der Fülle an Büchern umarmtes Studierzimmer, mal in eine Kirche mit geheimnisvoller Atmosphäre oder in alle sonstigen Ortschaften, die es noch so braucht, um die Geschichte in beeindruckender Plastizität erzählen zu können. Akzente in der Beleuchtung oder eine Grundierung mit stimmungsvoll eingesetztem Bühnennebel runden das optische Spiel gekonnt ab. Besonders bemerkenswert gestalten sich in puncto Kulisse jedoch einzelne visuelle Akzente, die die Genialität des liebevoll durchdachten Bühnenbildes unterstreichen und dem künstlerischen Anspruch des Theatererlebnisses Nachdruck verleihen. So sticht beispielsweise die Umsetzung der Behausung Magarethes als geschickter Schachzug dieser Inszenierung ins Auge, denn für die Darstellung dieses Schauplatzes wurde hier eine vergrößerte Version eines Puppenhauses gewählt, dessen Innenraum dank der mehrseitig bespielbaren Drehbühne ähnlich eines Blicks durch die Lupe betrachtet werden kann und somit schon beinahe dem Prinzip eines cineastischen Hineinzoomens folgt. 

        (c) Matthias Jung / Oper Wuppertal 

Hoch atmosphärisch erzählt die Oper eine bewegende Geschichte rund um die Themen von Erlösung und Verdammnis, Schuld und Sühne sowie Liebe und Leid und stellt damit einen zentralen Konflikt in den Mittelpunkt, der sich um die Frage rankt, wie weit man bereit ist, für sein eigenes Seelenheil zu gehen. Geschickt spielt die Produktion hierbei mit der Frage nach Realität und Fantasie und überlässt es dem Rezipienten zu bewerten, inwieweit das Abgebildete als physisch verankerte Darstellung oder doch als symbolisches, träumerisches Bild gedeutet werden kann. Insbesondere der stimmungsgewaltigen Szene der Walpurgisnacht kommt in dieser Frage eine zentrale Rolle zu, denn im Dunkel der geheimnisvoll aufgeladenen Nacht wird Faust mit teuflischen Schattenbildern konfrontiert, die wie ein verhängnisvolles Karussell aus Rückblenden, Visionen, Wunschbildern und Sinnestäuschungen um den Gelehrten kreisen. Dirigiert Mephisto das gesamte Spektakel tatsächlich als leibhaftig erschienene Ausgeburt der Hölle oder fungiert er vielmehr als jene innere dunkle Facette Fausts, die ihn aus dem eigenen Verlangen heraus antreibt und in der Teufelsgestalt lediglich eine äußere Körperlichkeit findet?

Im Konflikt zwischen Gut und Böse, zwischen Himmel und Hölle, wirkt der Charakter Marguerites, der in dieser Theaterproduktion den eigentlichen "Pudels Kern" der Geschichte abbildet, als symbolische Stellvertreterfigur. Über den Handlungsverlauf hinweg muss die junge Frau zunehmend erfahren, was eine Kollision persönlicher Wünsche und Emfpindungen mit den Normen und dem Verhaltenskodex einer konservativ-patriarcharl geprägten Gesellschaft bedeutet, die über das Schicksal des Einzelnen richtet und sich in ihrer Doppelmoral christlicher Frömmigkeit und radikalen Richtertums als bigotte Masse voll blinden Eifers entpuppt. In ihrer bedingungslosen Hinwendung zum christlichen Glauben und der reinen Herzensgüte erfährt Marguerite jedoch schlussendlich allen Widerständen zum Trotz Rettung durch die göttliche Gnade. Gerade diese letzte Szenerie lässt das Theaterpublikum staunend und tief bewegt zurück, ist es der Inszenierung doch gelungen, jene bereits für den literarischen Stoff so prominente Antithetik von Sünde und Erlösung in den letzten Minuten der Oper besonders stimmungsgewaltig in eindringlicher Visualität zu verarbeiten und dabei ein finales Bild auf der Bühne zu schaffen, das die Imposanz dieser Geschichte in ein einziges, kunstvoll nachhallendes Portrait atmosphärischer Theaterszenerie bannt. Mephistos selbstgefällige Bekundung des richtenden Urteils über die geschundene Marguerite wird durch die Szenerie des düsteren, tristen Kerkers plastisch aufgenommen und bricht sich im Spiel des durch das Fenster hereinfallenden Lichtstrahls, der die durch den transzendenten Einwurf "Ist gerettet" abgebildete göttliche Gnade symbolisiert. Der Dunkelheit gelingt es nicht, die vermeintliche Sündigerin vollends zu verschlucken, bevor die göttliche Macht das Licht der Barmherzigkeit entzündet. Dieser theatralen Finalität wohnt solch eine Größe und Atmosphärik inne, dass der letzte Moment vor dem Fall des Vorhangs von einem nahezu epischen Ausmaß ausgekleidet wird.

        (c) Matthias Jung / Oper Wuppertal 

Die Wuppertaler Inszenierung der Oper "Faust" lebt von einer musikalischen wie geschichtlichen Intensität, die den Zuschauer in einen Strudel kraftvoller Theatralik zieht, und offeriert ein eindringliches Werk qualitativ hochwertigen Musiktheaters, das eindrucksvolle Bilder auf die Bühne zaubert. Der Oper gelingt es meisterhaft, Momente epochalen Ausmaßes zu kreieren und zugleich doch auch in den großen Arien sowie den starken Bildlichkeiten den Kern des Intimen, des Verletzlichen zu wahren. An der Seite von stark konturierten Figuren begibt sich das Publikum auf eine Suche nach dem Sinn des menschlichen Daseins und wird - eingebettet in musikalische Imposanz - mit einer Geschichte konfrontiert, die die Paradoxie des Individuellen inmitten gesellschaftlicher Zwänge beleuchtet. Stimmstark wie visuell beeindruckend vermag es die Produktion, die Brillanz von Goethes Meisterwerk mit der künstlerischen Fulminanz einer gut durchdachten, auf clever eingewobene inszenatorische Kniffs vertrauenden Oper auszustatten, die ganz subtil den Fokus der geschichtlichen Verstrickungen verschiebt und somit den Opus der deutschen Literatur in ein Farbspiel aus altbewährtem Fundament und neu veredelten Details rückt. 
Theaterbesucher der Oper Wuppertal dürfen sich auf einen stimmungsgewaltigen Abend freuen, der im Sinne einer komplexen Rezeptionsästhetik fordert und zugleich auch den Zugewinn großer Theateratmosphärik verspricht.

        (c) Matthias Jung / Oper Wuppertal 


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Vom Mut, den eigenen Ton zu finden - Ein himmlischer Theaterabend der großen Emotionen

Ein wortgewaltiger Flug an der Seite von Sängerin und Musikliebhaberin Madeleine Haipt

Evita - Die Geschichte einer umstrittenen Volksheldin eingebettet in große musikalische Arrangements